Der Wolf
Attraktivität, die den Rangniedrigeren fehlt. Diese an sich weniger
an ständigem Kontakt Interessierten treten nicht in dicht
geschlossenen Untergruppen auf ; abgesehen davon üben
sie auch allein eine geringe Attraktivität aus. Kein Wunder, daß sie es sind, die sowohl von sich aus als erste das
Rudel zu verlassen suchen als auch von den anderen am
wenigsten daran gehindert werden.
In diesem Zusammenhang müssen wir auch die Frage
nach der Führung im Rudel betrachten. Kein Rudelmitglied bestimmt allein über Aktivitätsanfang oder -ende,
über Laufrichtung, Laufgeschwindigkeit sowie andere für
den Zusammenhalt des Rudels wesentliche Aktivitäten der
anderen Rudelmitglieder. Den alles bestimmenden »Leitwolf« gibt es nicht. Gleichwohl gibt es Tiere, die genau wie
beim Zusammenhalt des Rudels Entscheidungsprozesse im
Rudel stärker beeinflussen als andere. Dies müssen aber
nicht unbedingt dieselben Tiere sein. Wir haben gesehen,
daß eine hohe Attraktivität ausgeht von
– adulten, vor allem ranghohen, Wölfen auf jüngere ;
– Ranghohen auf andere Ranghohe;
– Welpen auf ihre Eltern, weitere ranghohe Adulte und
Juvenile ;
– großen Gruppen auf kleine Gruppen und Einzeltiere ;
– aktiven und aufbrechenden Tieren und Gruppen auf
ruhende ;
– Tieren und Gruppen, welche die eingeschlagene Laufrichtung beibehalten.
Es müssen aber nicht alle »attraktiven« Tiere das Rudel
führen ; die Welpen zum Beispiel tun es bestimmt nicht.
Auch müssen etwa aufbrechende Wölfe nicht unbedingt die
Entscheidung treffen, ob nun tatsächlich das ganze Rudel
weiterläuft. Der »Initiator« muß also nicht unbedingt auch
der »Entscheider« sein. Wer entscheidet nun aber ? Beobachtungen an frei lebenden Wölfen auf Isle Royale im Oberen See an der Grenze zwischen den USA und Kanada, wo
seit vielen Jahren die Ökologie des Wolfes untersucht wird
– wir werden noch von diesen Arbeiten hören –, ergaben,
daß eines der beiden Alpha-Tiere eines Rudels in 70 Prozent aller Fälle an der Spitze des Rudels lief. Rolf Peterson,
der seit vielen Jahren die Untersuchungen auf der Insel
leitet, schließt daraus, daß die Führung des Rudels weitgehend von den Alpha-Tieren ausgeht. Das ist im Prinzip
richtig. Allerdings haben unsere Versuche gezeigt, daß es
nicht immer ganz so einfach ist.
Es scheint vielmehr, daß alle Rudelmitglieder ihren Teil
zur Entscheidung beitragen, wenn auch jedes mit unterschiedlich gewichtiger Stimme. Es ist wie in einer qualifizierten Demokratie: Je älter und ranghöher ein Mitglied ist,
desto mehr Gewicht hat seine Stimme, die jedoch niemals
so gewichtig werden kann, daß sie alle anderen Stimmen
zusammen überwiegt. Gegen den Willen der Rudel-Mehrheit kann sich auch der ranghöchste Rüde nicht durchsetzen
– nicht einmal das Alpha-Weibchen in der Ranzzeit, während deren es sonst scheinbar uneingeschränkt die Aktivität des Rudels bestimmt. Ein paarmal habe ich beobachtet,
wie die läufige Wölfin – sonst stets eine Traube von Rüden
hinter sich herziehend – sofort stehenblieb, als die Rüden
aus irgendeinem Grund (zumeist waren es Streitigkeiten)
nicht weiter hinter ihr herliefen. Auch beim Alpha-Rüden,
der außerhalb der Ranzzeit das Geschehen im Rudel so
stark beeinflußt, habe ich häufig den Eindruck gehabt, daß
gerade er sich sehr stark nach den anderen richtet. Das zeigt,
daß Entscheidungsprozesse im Rudel viel komplexer sind,
als die herkömmliche Vorstellung vermuten läßt.
Einige Tendenzen haben die bisherigen Beobachtungen
und Versuche zwar kenntlich gemacht, doch ich glaube, es
gibt hierzu noch viel zu lernen.
Allerdings muß man das Gelernte auch behalten können.
Das jedenfalls sagten mir meine Mitarbeiter, als wir mit
meinen bislang letzten Wölfen in den Abruzzen Filmaufnahmen machten und Knurre, das rangniedrigste der drei
Weibchen, einfach vom Drehort verschwand. Wie immer
liefen im Gebirge die Wölfe frei umher, hielten sich aber
den ganzen Tag über weitgehend in unserer Nähe auf. Sollte
einer wirklich einmal weiter weg laufen, mußte ich nur meinen Hund Raas hinterherschicken. Seitdem sie als Welpen
ihn als Rudelmitglied und Anführer bei ihren Wanderungen angenommen hatten, folgen sie ihm fast bedingungslos. Als zusätzliches Bindeglied zwischen uns menschlichen
»Rudelmitgliedern« und den Wölfen war er für unsere Arbeit
unentbehrlich geworden. Doch jetzt fand auch er keine Spur
von dem entschwundenen Weibchen. Daß gerade Knurre
als die
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