Der Wolf
Rangniedrigste weglaufen könnte, hätte ich, nach
so vielen Erfahrungen mit der Bindung einzelner Wölfe in
einem Wolfsrudel, wirklich voraussehen müssen.
Wir hatten hoch oben an den Hängen des 2793 Meter
hohen Maiella-Massivs die vier Wölfe gefilmt. Dabei hatten
wir auch festgehalten, wie Knurre von ihren Geschwistern
weidlich verprügelt wurde. Sie hielt sich danach deutlich
abseits von den anderen. Dies sagte man mir auch, doch
der Sonnenuntergang versprach besonders schön zu werden, und so trieb ich alle zur Eile an, um rechtzeitig oben
auf dem Berg zu sein. Knurre würde schon nachkommen,
dachte ich.
Als wir mit unseren letzten paar Meter Film in der Kamera
das letzte Licht über den Bergen – noch dazu für die letzten Szenen des Films – eingefangen hatten, war Knurre verschwunden. Alles Rufen und Suchen nutzte nichts. Wieder
war, wie so häufig in den Jahren zuvor, gerade ein rangniedriger Wolf eigene Wege gegangen. Es war schon völlig dunkel, als wir beim Auto unten anlangten. Wir sperrten die drei verbliebenen Wölfe in den für sie eingerichteten Trailer und schwärmten dann aus, um Knurre zu
suchen. Ein eiskalter Wind blies vom Meer her die verschneiten Maiella-Hänge hinauf. Unter solchen Bedingungen Knurre zu finden schien aussichtslos. Doch was sollten
wir machen ? Die Wölfin hier oben allein lassen und wegfahren – das ging nicht.
Nach stundenlangem Suchen fand ich im Schnee tatsächlich die Spuren eines Wolfes. Wenig später sah ich weit
unter mir im starken Scheinwerferlicht die gelben Augen
eines Tieres aufleuchten. War das Knurre? Ich schrie, was
ich konnte, doch gegen den inzwischen mit Sturmstärke
heulenden Wind war mein Geschrei nur ein klägliches Flüstern. So kletterte ich den steilen Hang hinunter, immer in
Richtung auf das im Scheinwerferlicht glimmende Augenpaar. Doch der Abstand blieb unverändert. Je weiter ich
nach unten kam, desto weiter unten leuchteten erneut die
Augen in der dunklen Nacht. Es war wie verhext. Ich kletterte, rutschte, fiel einen vereisten Steilhang hinab, ich tobte,
brüllte nach Knurre, schickte Raas voraus, doch der zeigte
kein Interesse, den vermeintlichen Spuren zu folgen. Die
Lichter kamen nicht näher, und wir gerieten immer tiefer talwärts, bis wir schließlich den Wald erreichten. Hier
war der Schnee nicht so stark vom Wind verweht, und ich
konnte ab und zu wieder deutlich die frischen Spuren eines
Wolfes erkennen. Die leuchtenden Augen hingegen waren
zwischen den Baumstämmen verschwunden. Am Rande
eines steilen Felsens gab ich auf.
Spät in der Nacht kam ich erschöpft zu unserem abgestellten Auto mit dem Trailer für die Wölfe zurück. Dort
erwarteten mich die anderen völlig durchgefroren – ich
hatte den Autoschlüssel in der Tasche. Schweigend fuhren
wir nach Hause, wo wir ein heißes Bad nahmen und ein
paar Stunden schliefen. Am anderen Morgen fuhren wir
auf einer Forststraße hoch hinauf ins Gebirge, bis es nicht
mehr weiterging. Abermals verteilten wir uns. Heute waren
auch mehrere befreundete Forstleute dabei, alle mit geschultertem Gewehr. Wir, die wir Knurre so gut kannten und
wußten, was für ein besonders lieber Wolf sie war, lachten
darüber, aber sie sagten, sie fühlten sich so sicherer.
Wir suchten den ganzen Tag, gegen den nach wie vor eiskalten Wind ankämpfend. Knurre blieb unauffindbar. Die
Forstleute waren allesamt längst wieder weg. Doch meine
Mitarbeiter wollten noch nicht aufgeben, ich ebensowenig.
Nach einigem ratlosen Hin und Her stieg ich allein zu der
Stelle hinauf, wo wir am Abend zuvor unsere letzten Aufnahmen gemacht hatten. In dem offenen Gelände mußte
ich mich gegen den Wind stemmen. Raas wich mir nicht
von der Seite. Da fühlte ich, daß mir etwas gegen die Kniekehlen stieß. Ich drehte mich um – und wurde von Knurre
angesprungen.
Ich weiß nicht, wer sich mehr gefreut hat : wir beide oder,
als wir wieder unten waren, meine Mitarbeiter, die so wakker, Wind und Wetter trotzend, an der Suchaktion teilgenommen hatten. Auf jeden Fall waren wir alle erleichtert,
endlich diese unwirtlichen Höhen verlassen zu können.
Die leuchtenden Augen in der letzten Nacht mußten von
einem wilden Wolf gestammt haben.
Neuntes Kapitel
Anpassungswert sozialer Verhaltensstrategien
Alter, Geschlecht und Rang bestimmen das Verhalten eines
jeden Wolfes im Rudel. Darüber haben wir schon viel erfahren. Noch aber bleiben zahlreiche Fragen offen. Welches
Interesse hat beispielsweise der Alpha-Rüde am
Weitere Kostenlose Bücher