Der Wolfsthron: Roman
aufzustehen. »Wo ist Han? Ich will ihn sehen.«
»Enkelin …«, sagte Elena und runzelte die Stirn. »Du solltest dich jetzt ausruhen. Ich fürchte, das hier ist …«
»Nein!«, sagte Raisa lauter, als sie es beabsichtigt hatte. »Wenn ich drei Tage geschlafen habe, dann sind vier Tage vergangen, seit jemand versucht hat, mich umzubringen. Ich will klare Antworten auf meine Fragen, und ich will denjenigen sehen, der mir das Leben gerettet hat, wie ihr sagt. Ich will sehen, welchen Preis er dafür bezahlt hat.«
»Wenn du darauf bestehst«, erwiderte Elena. Ihr Gesicht war vor Missbilligung angespannt.
Willo half Raisa auf die Beine und stützte sie mit einer Hand unter dem Ellenbogen. »Er liegt nebenan«, sagte Willo. In der Hütte der Matriarchin gab es mehrere mit Vorhängen abgeteilte Schlafkammern, in denen die Patienten unter dem wachsamen Auge der Heilerin ruhen konnten.
Willo zog den Ledervorhang zur Seite, und sie schlüpften hindurch. Elena blieb im Gemeinschaftsraum, als ob Han’s Leiden ansteckend sein könnte.
Mitten in der Kammer brannte ein Keramikofen, der von zwei Lehrlingen in Gang gehalten wurde, einem Jungen und einem Mädchen, beide etwas älter als Raisa. Süßhölzer glühten in einem Brenner, und einer der Lehrlinge wehte den Rauch mit einem großen Fächer in Richtung des Patienten.
Han Alister lag auf einer Pritsche dicht beim Feuer. Er war in Decken gehüllt, und sein Gesicht war blass und glänzte im Feuerschein vor Schweiß. Die Haare waren feucht und klebten ihm am Kopf, und er zuckte und zitterte unter den Decken, murmelte und flüsterte vor sich hin.
»Süße Herrin!«, rief Raisa und starrte auf ihn hinunter. Es sah aus, als würde sich die Haut über seinen Knochen spannen. Für gewöhnlich sprühte er vor Lebensfreude. Aber jetzt schien alle Lebensessenz entwichen. Tränen brannten in ihren Augen. Sie sank direkt neben der Pritsche auf die Knie und strich ihm sanft ein paar goldene Haarsträhnen aus der Stirn.
Wehe, du stirbst. Du darfst nicht sterben. Ich verbiete es dir.
Als hätte Han Alister jemals auf das gehört, was sie zu ihm gesagt hatte.
Raisa schluckte hart und blickte zu Willo hoch, die mit zusammengezogenen Brauen und nachdenklich geschürzten Lippen auf sie heruntersah. »Ist es nicht zu heiß hier drin? Er schwitzt.«
»Wir entziehen ihm das Gift mit Hitze, Rauch und abführenden Mitteln«, erklärte Willo. »Weil es keine Eintrittsstelle gibt, können wir es nicht mit Schlangenbisswurz entfernen, wie wir es bei Euch getan haben. Wir haben ihn auch zur Heilerquelle gebracht, aber die Hitze – oder vielleicht auch Kälte – ist für ihn fast unerträglich, und er wehrt sich gegen uns. Beim letzten Mal hätte er Bright Hand fast ertränkt.« Willo deutete mit einem Nicken auf den Lehrling. »Ich vermute, dass das Gift bei ihm genauso wirkt wie bei Euch und seine Sinne verwirrt.«
Raisa stellte sich vor, sie würde in diesem Moment in eine heiße Quelle getaucht, und erschauerte.
»Er hat Krämpfe«, sprach Willo weiter. »Allerdings scheinen sie etwas nachzulassen.« Sie wandte sich an ihren Lehrling. »Bright Hand, hat Hunts Alone etwas gegessen? Hat er etwas getrunken?«
Der Lehrling schüttelte den Kopf. »Wir haben es versucht. Er wehrt sich dagegen. Er ist verwirrt.«
Selbst wenn er überlebt – was ist, wenn er nie wieder zu Verstand kommt?, dachte Raisa.
»Solltet Ihr – solltet Ihr nicht einen Magierheiler holen?«, fragte sie laut. »Möglicherweise könnte man ihm mit Magie helfen.«
Willo nickte; sie schien sich durch die Frage nicht beleidigt zu fühlen. »Ich stimme Euch zu. Wir wissen nicht viel über Hohe Magie und Amulettschwinger. Sie weigern sich normalerweise, sich von uns behandeln zu lassen. Aber wem in Fellsmarch könnten wir trauen? Wir könnten jemanden von der Akademie in Odenford holen, aber ich glaube, bevor es jemand bis dorthin und wieder zurück geschafft hat, wird Hunts Alone sich entweder von allein erholt haben – oder gestorben sein.«
Raisa nahm Han’s Hand. Sie fühlte, wie schwach seine Macht durch seine Finger summte, ein bloßer Schatten des früheren Stroms. Das stimmte sie nachdenklich.
Sie hob die Decken, die bis zu seinem Kinn hochgezogen waren, und warf einen Blick darunter. Dann sah sie Willo an.
»Wo ist sein Amulett?«, fragte Raisa.
»Er hatte zwei bei sich, und einen Talisman aus Eberesche und Eiche«, antwortete Willo. »Ich habe sie ihm weggenommen, bevor die Demonai sie ihm abnehmen
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