Der Wolfsthron: Roman
sein Fehler war. Sie wollte ihm tausend Fragen stellen. Sie wünschte, sie könnte einfach alle anderen aus dem Zimmer scheuchen.
»Korporal Byrne.« Ihre Stimme war immer noch heiser von der Wirkung des Giftes. »Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.«
Sie machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, schwankte und wäre beinahe gefallen, hätte Averill nicht hastig einen Schritt nach vorn gemacht und sie aufgefangen.
»Er weiß es bereits, meine Dornenrose«, sagte ihr Vater. »Nightwalker hat uns die Neuigkeiten überbracht.«
»Nightwalker?« Raisa sah an Averill vorbei zur Tür. »Ist er …?«
»Er ist in der Stadt geblieben, um … um …« Averills Stimme brach, und er drückte sie fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn, als wäre sie ein kleines Kind. »Dank sei der Schöpferin, dass du am Leben bist. Du hast keine Ahnung, was ich … Als Nightwalker uns erzählt hat, was passiert ist und dass du schwer verletzt wärst, hatte ich schon Angst, dass wir dich auch verlieren würden.«
Für einen kleinen, schier endlosen Moment erlaubte sich Raisa, nichts weiter als Averills Tochter zu sein; sie schlang ihre Arme um ihn und drückte ihr Gesicht in sein Lederhemd. Endlich konnte sie sich ausruhen und in Sicherheit fühlen.
Endlich bin ich zu Hause, dachte sie. Von jetzt an wird alles besser.
Averill stellte sie vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, wieder gerade hin, aber er behielt einen Arm um ihre Schultern.
»Korporal Byrne«, sagte Raisa und bemühte sich, eine ruhige, offizielle Haltung einzunehmen, »Euer Vater war einer der mutigsten und weisesten Männer, denen ich begegnet bin, und er war so stolz auf Euch – und nur zu Recht.«
»Hoheit«, sagte Amon. »Es tut mir so leid. Ich hätte dort sein sollen. Ich hätte an seiner Stelle sein sollen.«
»Nein«, sagte sie und hob eine Hand, um ihn am Weitersprechen zu hindern, während ihr Tränen über das Gesicht liefen. »Wärt Ihr dort gewesen, hätte ich euch beide verloren, und euch beide zu verlieren, hätte ich nicht ertragen.« Sie zögerte und versuchte, ihre Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen. »Es ist auch so schon ein schwerer Verlust für das Geschlecht, und auch für mich persönlich.«
Amon nickte einmal, dann sah er stur geradeaus. Seine Augen füllten sich mit ungeweinten Tränen. An seinem Unterkiefer zuckte ein Muskel, und sie wusste, dass er die Zähne zusammenbiss. »Danke, Hoheit«, brachte er hervor. Er schluckte mühsam.
Raisa wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. Es war in Ordnung zu weinen, sagte sie sich. Soldaten und Königinnen durften weinen, oder nicht?
Aber sie war zur Hälfte eine Demonai. Und Demonai weinten nicht.
»Hauptmann Byrne und sein Tripel waren nicht die einzigen Helden«, sprach Raisa weiter, fest entschlossen, dieser Geschichte selbst eine Fassung zu geben, bevor sie ihr aus der Hand genommen wurde. »Nachdem ich verletzt worden war, hat Han Alister sein Leben riskiert, um mich zu retten.« Sie machte eine Pause und musterte die Gesichter der Anwesenden genauer. »Wenn ich es recht verstehe, kennen einige von euch ihn als Hunts Alone.«
Averill warf Elena einen Blick zu und wölbte eine Augenbraue. Elena nickte, aber sie hatte die Lippen fest zusammengepresst.
»Alister ist hier?«, fragte Amon. Seine grauen Augen suchten jeden Winkel des Raums ab.
Raisa neigte den Kopf in Richtung des Vorhangs. »Er liegt dort und kämpft um sein Leben.«
»Beim Blute des Dämons!« Amon machte einen Schritt auf den Vorhang zu. »Ist er verwundet worden? Was hat er …?«
»Es gibt noch weitere Neuigkeiten, Tochter«, warf Averill rasch ein. In seiner Stimme schwang eine Warnung mit. »Neuigkeiten, die nicht warten können.«
Raisa drehte sich um und sah zu ihrem Vater auf, in seine hageren Gesichtszüge, in denen Verlust und Trauer und … ja, auch Angst ihre Spuren hinterlassen hatten. Ausnahmsweise einmal ließ sein Händlergesicht ihren Vater im Stich.
»Lightfoot«, sagte Elena. »Was ist? Was ist passiert?«
Averill legte beide Hände auf Raisas Schultern und sah ihr ins Gesicht. »Sie ist gegangen, meine Dornenrose«, sagte er. »Deine Mutter – Königin Marianna – ist tot.«
KAPITEL ZWÖLF
Das Vermächtnis
R aisa löste sich abrupt aus den Armen ihres Vaters und schüttelte den Kopf.
»Nein«, widersprach sie schroff. »Das kann nicht sein. Das ist unmöglich.« Sie sah in die Gesichter der anderen um sie herum, suchte nach Bestätigung und fand keine. Willos
Weitere Kostenlose Bücher