Der Wolfstrank
ist doch so, wie ich es gesagt habe, Lucy. Der Wald ist nichts für uns Menschen. Nicht für immer. Mal zum Spazierengehen und zum Erholen schon, aber sonst...«
»Sag doch, was du meinst!«
»Gut, Lucy. Ich wollte dich finden. Ich habe dich auch gefunden, und jetzt stehe ich vor dir, um dich wieder nach Hause zu holen. Das ist alles...«
Lucy sagte nichts. Ihr Schweigen irritierte Marlene. Sie blickte in das Gesicht ihrer Enkelin und versuchte darin zu lesen, was sie wohl dachte.
»Ich fühle mich hier wohl«, sagte Lucy schließlich. »Ich werde hier im Wald bleiben. Kann sein, dass ich dich hin und wieder besuchen komme, aber der Sommer wird wunderbar werden, das spüre ich. Und deshalb möchte ich nicht mehr zurück, verstehst du?«
Eine Ausrede!, schrillte es durch Marlenes Kopf. Das ist nichts anderes als eine Ausrede. Damit kann sie mir nicht kommen. So etwas kann es nicht geben. Das ist ja einfach nur verrückt. Sie hat sich völlig gedreht.
Noch immer traute sie sich nicht, die Sprache auf den Wolf zu bringen. Sie nagte an der Unterlippe und flüsterte: »Stimmt denn das alles, was du mir da gesagt hast?«
»Ja, warum sollte es nicht stimmen?«
»Ich kann es dir nicht sagen, Lucy, weil ich es einfach nicht weiß. So sieht es aus.«
»Du kannst es sehen.«
Das begriff Marlene nicht. »Was soll ich denn sehen können, Kind?«
»Wie ich lebe.«
»Hier im Wald?«
»Ja.«
»Und dann?«
»Wirst du mich sicherlich verstehen können, Großmutter.« Sie streckte ihr die rechte Hand entgegen. »Bitte, komm jetzt. Ich möchte dir alles zeigen.«
Marlene King wusste noch immer nicht, wie sie sich verhalten sollte. Entsprachen die Wünsche der Wahrheit, oder erlebte sie hier ein abgekartetes Spiel?
Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste nichts. Sie fühlte sich überfragt und hintergangen. Alles war anders geworden. Nicht nur Lucy’s Leben hatte sich auf den Kopf gestellt, sie zählte sich selbst auch dazu. Am schlimmsten empfand sie ihre Sprachlosigkeit, und sie war auch nicht in der Lage, nachzudenken und etwas dagegen zu tun.
Wäre Lucy nicht ihre Enkelin gewesen, dann hätte sie anders reagiert. So aber musste sie auf Lucy’s Linie einschwenken. Im Hintergrund lauerte noch immer der Wolf. Den hatte sie gesehen. Sogar zusammen mit Lucy. Der ließ sich auch nicht wegreden. Und einer wie er hatte im Wald sein ideales Versteck gefunden, das kam auch noch hinzu.
Ein Versteck wie Lucy...
Wieder überfiel sie ein Schauer. Sie wurde unsicher, im Gegensatz zu Lucy, die einfach nach der Hand ihrer Großmutter fasste und sagte: »Komm jetzt bitte.«
Marlene ließ sich weiterziehen, doch in ihrem Kopf baute sich eine Frage auf.
Wohin soll das noch alles führen...?
***
Es führte zu einer Hütte!
Beide blieben stehen, und Marlene war mehr als überrascht, als sie den aus Zweigen und Holz gebauten Unterschlupf sah, der sich dort befand, wo die Bäume besonders dicht zusammen wuchsen und dem zwar primitiven, aber auch geschickt angelegten Bau den nötigen Halt verliehen.
Es war für sie wirklich wie im Märchen. Und doch erlebte sie eine Tatsache.
Enkelin und Großmutter blieben stehen. Lucy hatte ihre Oma bewusst gestoppt, damit sie sich einen ersten Eindruck verschaffen konnte.
Sie standen vor der breiten Seite der Hütte, in der es eine Tür gab. Sie war ebenfalls aus Holz gezimmert worden, wie auch die Seiten. Um ihnen Halt zu geben, waren die Zwischenräume der Stämme mit Moos ausgepolstert worden. Nur für das Dach hatte man kein Holz mehr gefunden. Es war aus Zweigen und Ästen, sowie Farnen, Gras und Moos dichtgemacht worden. Fenster gab es nicht. Auch bei Sonnenschein würde es in der Hütte immer düster sein. Die Umgebung war zusammengewachsen wie bei einem tropischen Dschungel.
»Gefällt sie dir, Großmutter?«
Marlene wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Egal, lass uns erst mal hineingehen.«
»Ja, wie du willst.«
Marlene ärgerte sich darüber, dass ihre Knie zitterten. Sie konnte nicht von einer unbedingten Panik sprechen, die sie erlebte, aber die Furcht war in ihr hochgekrochen und hielt sie in den Klauen. Diese Welt hier war mit der ihren nicht zu vergleichen. Es war eine andere geworden, in der auch eine Gefahr lauerte, die sich aber noch im Unsichtbaren verbarg.
»Schau sie dir doch mal von innen an, Großmutter. Du wirst wirklich begeistert sein.«
Marlene hatte das Gefühl, das ein Teil ihres Willens ausgeschaltet worden war. Darauf
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