Der Wolfstrank
war nicht die Erzieherin und konnte das Kind auch nicht mit Gewalt nach Hause zerren. Zudem befand sie sich auf fremdem Terrain, und da lagen die Dinge eben anders. Im Gegensatz zu Lucy kannte sie sich hier nicht aus, und so hielt das Mädchen leider alle Trümpfe in den Händen.
Lucy streckte ihr den Kolben entgegen. Sie lächelte dabei etwas schief, und es kam Marlene auch wie ein falsches Lächeln vor. »Willst du nun oder willst du nicht?«
»Ja, ich will.« Marlene nickte, obwohl sie sich innerlich noch immer dagegen sträubte. Es blieb ihr leider nichts anderes übrig, wenn sie Lucy nicht ganz verlieren wollte. Hinzu kamen noch die Eltern. Was hätte sie ihnen sagen sollen?
Marlene kam sich vor, als wäre sie das Kind und Lucy die Erwachsene. Sie griff zu.
»Bitte, ist schon ein Anfang.«
Marlene King sagte nichts. Sie stand da und hielt das Gefäß in der rechten Hand fest. Die Finger umklammerten den langen Hals, ansonsten sagte sie nichts.
»Jetzt solltest du aber trinken. Es ist der richtige Ort und die richtige Zeit.«
»Kannst du mir denn sagen, was ich da trinke, Lucy?«
»Ein Trank aus den Früchten des Waldes. Viele Kräuter sind darin vereint.«
»Und was sonst noch?«
»Kräuter...«
»Welche Flüssigkeit?« Sie roch an der Öffnung. »Ich habe das Gefühl, dass es kein Wasser ist.«
»Kann sein.«
Marlene King stellte keine weiteren Fragen mehr. Sie wusste jetzt, dass ihr die Enkelin keine vernünftige Antwort geben würde. Aber sie wollte alles hm, um Lucy zurückzubekommen. Und deshalb setzte sie die runde Öffnung gegen ihre Lippen. Dabei hielt sie die Augen offen und schielte gegen die Kugel, die jetzt in eine schräge Lage geraten war, so dass sich die träge Flüssigkeit in Bewegung setzte und allmählich der Öffnung entgegenrann.
Marlenes Herz schlug schneller. Ihre Gedanken konzentrierten sich dabei nur auf einen Punkt, der sich zu einer Frage erweiterte. Was tue ich mir freiwillig nur an?
Sie spürte den Druck des Glases an der Unterlippe. Plötzlich schoss wieder ein Bild durch ihren Kopf. Sie sah Lucy zusammen mit dem Wolf an der Haustür stehen. Die tolle Begrüßung – so unverständlich. Das nächste Bild erschien.
Lucy in ihrem Bett!
Der Arm, auf dem die Haare gewachsen waren. Wie Fell und...
»Trink, Großmutter, trink endlich!«
Es hörte sich an wie ein Befehl. Da waren Worte zu einer akustischen Peitsche geworden.
Das Zeug rutschte weiter durch den Hals auf ihren Mund zu. Sie hatte ihn nur leicht geöffnet, und das Zeug widerte sie an. Marlene suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Sie wollte das Trinken nur Vortäuschen, aber sie wusste zugleich, dass es ihr nicht gelingen würde, denn Lucy beobachtete sie genau.
Der erste Schluck – nein, nur ein Schlückchen. Auch nicht mehr als eine Berührung mit der Unterlippe.
Dabei blieb es nicht, denn wenig später erreichte die träge Flüssigkeit die Zunge. Sofort reagierten da die Geschmacksnerven. Das Getränk schmeckte bitter und widerlich. Die Frau wollte das Gefäß absetzen, und genau das hatte ihre Enkelin geahnt.
Sie hob die rechte Hand und stieß damit gegen das Gefäß. Es kippte, die Flüssigkeit schoss beinahe schon nach vom und hinein in den Mund der Frau.
Es blieb Marlene King nichts anderes übrig, als das verdammte Zeug zu schlucken...
***
»Jetzt weiß ich auch, warum der Begriff gottverlassen erfunden worden ist«, sagte Suko.
»Ach ja? Warum denn?«
»Schau dich mal um.«
Das war zwar etwas übertrieben, aber im Prinzip hatte er schon Recht. Das Kaff hieß Common, und hier schien die Welt wirklich am Ende zu sein. Da gab es einfach nichts, was einen Menschen gereizt hätte, hier einen Urlaub zu verbringen. Es war hier alles sehr einsam. Selbst die wenigen Häuser vermittelten kein Gefühl der Geborgenheit. Wäre nicht die Straße gewesen, die den Ort teilte, hätte man sich wirklich verloren Vorkommen können.
Dafür lag der Ort in einer landschaftlich reizvollen Umgebung, die mit grünen Wäldern, Hügeln und Tälern gefüllt war. Das sah schon aus wie ein Naturschutzgebiet, und die Autobahn, die nur einen Kilometer östlich von Common entlang führte, schien überhaupt nicht zu existieren. Die Menschen fuhren vorbei, denn eine Abfahrt war erst gar nicht gebaut worden.
Ebenso hätte man auch die Hauptstraße ausbessern können, denn die Fahrt in den Ort wurde von einer wilden Schaukelei durch die Unebenheiten der Fahrbahn begleitet.
Suko verzog mehr als einmal das Gesicht zu einem
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