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Der Wolfstrank

Der Wolfstrank

Titel: Der Wolfstrank Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jason Dark
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nahm Lucy keine Rücksicht. Wieder umfasste sie die Hand der Großmutter. Dann ging sie langsam auf die Tür zu, die halb offen stand, von ihr aber mit der freien Hand noch weiter aufgezogen wurde, damit beide bequem über die Schwelle schreiten konnten.
    Die Hütte nahm sie auf und damit auch das grünliche Dunkel, bei dem die klaren Umrisse verschwammen. Die Augen mussten sich erst an die Umgebung gewöhnen, doch zunächst stellte Marlene King etwas völlig anderes fest.
    Es war der Geruch, der fremde Geruch, der ihrer Meinung nach nicht zu dem des Waldes passte. Es roch so anders. So streng. Nach Tier. Aber sie fand nicht heraus, nach welchem Tier die Luft stank. Scharf und säuerlich wie Schweiß. Jedenfalls strahlte ihre Enkelin den Geruch nicht ab. Sie roch zwar anders, aber nach Wald, und das fand Marlene irgendwie beruhigend.
    Nur konnte sie sich nicht vorstellen, dass sich Lucy hier wohlfühlen konnte. Es gab keine Stühle, keine normalen Tische. Wer sich setzen wollte, der musste auf Baumstümpfen Platz nehmen. Es war auch kein Bett vorhanden, dafür ein Lager aus Blättern, Zweigen, Ästen und Heu. Ein heftiger Windstoß hätte alles durcheinander gewirbelt.
    »Das kann doch nicht wahr sein, Lucy...«
    »Was denn?«
    »Dass du hier leben willst.«
    »Doch, Großmutter, doch.«
    »Bitte, hör auf, mir so etwas zu erzählen.« Ihre Stimme klang jetzt ärgerlich. »Was ich hier sehe, das ist nicht menschenwürdig, tut mir Leid.«
    »Aber ich mag es.«
    Marlene drehte sich ruckartig herum. »Seit wann magst du es? Seit der letzten Nacht, als du mit dieser verdammten Bestie verschwunden bist? Seit der Zeit.«
    »Der Wolf ist mein Freund.«
    Marlene schloss die Augen und atmete tief durch. Dann beugte sie sich zu ihrer Enkelin hinab, die etwas tiefer neben ihr stand. »Es ist ein Wolf und kein Hund, verstehst du? Ein Wolf kann nicht so sein wie ein Hund. Da hast du dich geirrt. Sieh es endlich ein, verdammt noch mal.«
    »Er mag mich.«
    »Und du ihn auch, wie?«
    »Klar.«
    »Das habe ich gesehen«, flüsterte Marlene vor sich hin. »Ja, das habe ich leider mit ansehen müssen. Damit sich das nicht wiederholt, bin ich zu dir gekommen. Ich werde dich wieder mit nach Hause nehmen, Lucy. Verstehst du?«
    Lucy lachte. Ihre Großmutter erkannte den Grund nicht. Dann sah sie, wie sich Lucy bückte und etwas vom dunklen Boden aufhob, das ihr bisher noch nicht aufgefallen war.
    Es war ein Gefäß, ein Kolben mit einer ungewöhnlichen Form. Unten lief er als Kugel zu. An der oberen Seite lief er in einem Hals aus, der nicht verschlossen war.
    Das Mädchen hielt ihn so hoch, dass er sich in Marlenes Augenhöhe befand. Jetzt konnte sie den Inhalt sehen, der hinter dem Glas dunkel schimmerte. Es war jedenfalls eine Flüssigkeit, wenn auch nicht so dünn wie Wasser.
    »Lucy, was soll das?«
    »Es schmeckt.«
    Marlene schluckte. »Du willst doch nicht etwa behaupten, dass du das Zeug da getrunken hast?«
    »Doch«, erklärte sie fröhlich. »Das will ich. Ja, ich habe davon getrunken.«
    »Es ist Gift!«, stellte Marlene King kategorisch fest. »Es ist ein verdammtes Gift!«
    Lucy ging auf die Bemerkung nicht ein. »Ich möchte, dass du auch einen Schluck davon trinkst.«
    »Nein, auf keinen Fall.« Die Frau fügte noch ein scharfes Lachen hinzu.
    Davon ließ sich das Mädchen nicht aus der Ruhe bringen. »Schade, Großmutter, das ist wirklich schade«, erklärte sie in einem bedauerlichen Tonfall.
    »Warum soll das für mich schade sein?«
    »Will ich dir sagen. Du möchtest doch, dass ich mit dir nach Hause komme.«
    »Und ob ich das möchte.« Marlene holte tief Luft.
    »Dann trink einen Schluck. Probiere ihn, und alles wird wie von selbst laufen.«
    Die Frau hatte nicht im Traum daran gedacht, einen Schluck zu nehmen. Jetzt allerdings sah die Sache schon anders aus. Sie spürte plötzlich, dass die Enkelin sie in eine verdammte Zwickmühle gebracht hatte. Lucy nutzte ihre Lage schamlos aus, und Marlene fragte sich wirklich, ob sie sich das antun sollte.
    »Du musst dich entscheiden, Großmutter.«
    Marlene schluckte, obwohl sie noch nichts getrunken hatte. »Was ist denn, wenn ich es ablehne?«
    »Dann werde ich nicht mit dir zurückgehen, das habe ich dir schon gesagt. Das meine ich ehrlich.«
    Für Marlene hatte die Kleine ihre kindliche Unschuld verloren. Sie hatte sich tatsächlich angehört wie eine Erwachsene, und sie war ihr so schrecklich fremd geworden. Sicherlich hätten ihre Eltern anders reagiert, aber sie

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