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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Yoonas Zweifel an unserer Welt verfolgten mich unablässig. Was wäre, wenn nicht Papa Song unser Vater war, sondern ein AdV?
Wie ich meine unkritischen, sorglosen Schwestern beneidete! Ich wagte es nicht, mit einer von ihnen über meine Metamorphose zu sprechen.
     
    Du wusstest, was du nicht tun durftest. Was hattest du also vor?
Was blieb mir anderes übrig, als meine Situation still zu ertragen?
Zwei parallele Aufstiege deuteten auf ein gezieltes Vorhaben hin. Wenn ich herausfinden wollte, was es mit diesem Vorhaben auf sich hatte, lief ich Gefahr, reorientiert zu werden oder dasselbe Schicksal wie Yoona~939 zu erleiden. Also studierte ich die anderen Duplikanten und bemühte mich verzweifelt, ihre Leere nachzuahmen. Ich befolgte alle Katechismen, besonders wenn Seher Rhee zugegen war. Das war nicht einfach. Angst stärkt die Vorsicht, aber Langeweile untergräbt sie. Ich traute mich nicht in Yoonas Geheimniszimmer, weil es kein Geheimnis war, sondern eine Falle.
     
    Und wie lange musstest du deinen heimlichen Aufstieg ertragen?
In der letzten Neunten Nacht von Monat Vier wachte ich während der Ausgangssperre auf. Ich traute mich nicht, den Schlafsaal zu verlassen. Also musste ich entweder bis zur gelben Stunde warten oder darauf hoffen, dass ich wieder einschlief. Plötzlich hörte ich im Dom ein leises, aber unverkennbares Geräusch: klirrendes Glas.
    Ich spitze die Ohren: nichts.
Meine Schwestern lagen schlafend auf ihren Pritschen. Wer hielt sich sonst noch im Dom auf? Nur Seher Rhee.
Ich stand leise auf und ging zur Tür. Ich drehte den Knauf und spähte in das leere Restaurant. Aus dem Büro des Sehers drang weißes Licht. Durch die offene Tür sah ich seinen umgekippten Schreibtischstuhl; Rhee lag regungslos mit dem Gesicht nach unten auf dem Fußboden. Ich schlich durch den Dom und verbarg mich in der Dunkelheit, bis ich Gewissheit hatte, dass er bewusstlos war. Seine Pupillen waren in den Reinblüteriris verschwunden. Blut rann aus einem Ohr und der Nase über sein erschöpftes Gesicht. Um ihn herum glitzerten Glasscherben.
     
    Rhee war tot?
Ich roch Lethe, ein Soporfix, das der Seife hinzugefügt wird. Die normale Dosis für einen Service-Duplikanten beträgt drei Tropfen, aber Rhee hatte eine ganze Halbliterflasche getrunken. Hätte ich sofort einen Med gerufen, wäre sein Leben vielleicht zu retten gewesen. Aber wie sollte ich mein Eingreifen erklären? Die gesamte Konzernokratie hielt nach einem weiteren aufgestiegenen Duplikanten Ausschau, als Beweis für eine Verschwörung der Union. Sollte ich einen geschlagenen Mann vor einem schmerzlosen Selbstmord retten oder mir selbst eine qualvolle Reorientierung und ein von vorne beginnendes Arbeitsleben als Nullstern ersparen?
Ich legte mich wieder hin.
     
    Verursachte dir diese Entscheidung Schuldgefühle?
Nein. Mir war nur unbehaglich, weil die Nacht noch nicht vorbei war. Ich weiß nicht mehr, wie viel später ich schließlich den Fahrstuhl hörte. Dann Schritte. Ich glaubte, sie wären gekommen, um mich zu holen, aber ich rührte mich nicht. Die gelbe Stunde brach an, doch meine Schwestern schliefen weiter. Im Schlafsaal roch es nicht nach Stimulin. In Yoonas Buch gab es einen Palast mit Blaublütern und Dienstboten, die mitten beim Essen, Nähen oder Kochen eingeschlafen waren. An dieses Bild musste ich denken.
Die Stille wurde von einem leisen Reißgeräusch durchbrochen. Ein Streichholz? Dann hörte ich das Tap-tap-tap eines Sonys. Ich stand auf, schlich zur Tür und spähte aus dem Schlafsaal. Der Dom war halb erleuchtet, aber es waren keine Konsumenten zu sehen; die Assistenten waren nicht zur Arbeit erschienen; Papa Song stand nicht zur Morgenpredigt auf Seinem Sockel.
Nur ein Mann in einem dunklen Anzug, der mit einem Becher Kaffee in der Hand in dem merkwürdigen Licht saß und etwas schrieb. Wir sahen einander an; schließlich wünschte er mir einen guten Morgen und sagte, mir würde es hoffentlich besser gehen als dem armen Seher Rhee.
     
    Ein Vollstrecker?
Er sagte, er sei Chauffeur. Sein Name war Herr Chang. Ich entschuldigte mich; ich kannte das Wort ‹Chauffeur› nicht.
Der stille Besucher erklärte mir, dass ein Chauffeur die Fords der Vorstände und Xecs fährt. Manchmal würde er auch als Bote eingesetzt. Herr Chang hatte eine Nachricht für mich; für Sonmi~451, von seinem eigenen Seher. Sie stellte mich vor die Wahl: Entweder verließ ich sofort das Restaurant, ging ins Draußen und zahlte meine Investition auf andere Weise

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