Der Wolkenatlas (German Edition)
zurück; oder ich blieb, bis Assistent Cho Seher Rhees Leiche fand, und erduldete die Konsequenzen, wenn herbeigeholte Vollstrecker und DNA-Schnüffler meinen Aufstieg ans Tageslicht brachten.
Von einer Wahl kann wohl kaum die Rede sein.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich frei wählen durfte, und die Entscheidung fiel mir leichter als die meisten folgenden. Herr Chang klappte seinen Sony zu, warf den Kaffeebecher in den Müllschlucker, und wir gingen zum Fahrstuhl. Dieser Raum war noch kleiner als die Sanitäre der Bedienerinnen, aber für mich war er ein riesiges Tor. Ich sah die tote Yoona~939 vor mir; genau hier, in dieser Ecke hatte sie gelegen. Mein Blick wanderte durch den leeren Dom zur Nabe. Herr Chang zeigte mir, welchen Knopf ich drücken musste. Die Tür zu meinem alten Leben ging zu.
Mein Oberkörper wurde plötzlich ganz schwer, die Beine versagten, und ich fiel um. Herr Chang fing mich auf. Vermutlich war auch Yoona auf der Fahrt nach oben gestürzt und hatte dabei den Jungen fallen lassen. Herr Chang beruhigte mich; er sagte, dass alle unterirdisch lebenden Duplikanten dieselben Beschwerden verspüren, wenn sie zum ersten Mal Fahrstuhl fahren. Um die Übelkeit zu lindern, dachte ich an die Bilder aus dem Buch vom Draußen. Spinnwebenflüsse, ozeanische Wälder, Höhlen, knorrige Türme. Als der Fahrstuhl langsamer wurde, war mir, als schwebte mein Oberkörper in die Höhe.
‹Erdgeschoss›, sagte Herr Chang.
Der Fahrstuhl öffnete sich ins Draußen.
Ich beneide dich fast ein wenig. Beschreibe mir bitte präzise deine Eindrücke.
Chongmyo Plaza im Monat Vier vor Tagesanbruch. Er erschien mir so unendlich groß! Nach der langen Zeit im Dom schwirrte mir der Kopf, dabei ist der Platz nicht einmal fünfhundert Meter breit. Konsumenten eilten um die ewigen Füße des Geliebten Vorsitzenden herum, Kehrmaschinen brummten, Taxis hupten Radfahrer an, Fords stießen Dampf aus, Mülllaster krochen die Bordsteine entlang, achtspurige Schnellstraßen, überdacht von Baldachinen, gesäumt von Sonnen auf Masten, in einer tiefen Schlucht aus Glas und Beton, grelle, plärrende AdVs, Neonworte, blinkende Logos, Sirenen, Motoren, Maschinen, Elektronik, rumorende Leitungen unter dem Bürgersteig, ein Meer aus Licht in den unterschiedlichsten Stärken.
Ich hatte gar keine Worte für die Dinge, die ich sah.
Meine Frage kam nicht über ein ‹Was …?› hinaus.
Es muss überwältigend gewesen sein.
Überwältigend: das treffende Wort. Das Draußen steckte voller Gerüche: Dämpfe, Kimchi, Abwässer, die Körper der Konsumenten. Eine eilige Konsumentin rannte mich fast um; Pass doch auf, Klon! Bevor ich mich entschuldigen konnte, war sie fort. Der Atem einer riesigen, unsichtbaren Aircon zerzauste mir die Haare.
‹Das ist der Wind, der durch die Straßen pfeift›, erklärte mir Herr Chang, während er mich zu einem verspiegelten Ford lotste. Drei Studenten standen bewundernd vor dem Fahrzeug; als sie Herrn Chang kommen sahen, verschwanden sie wieder im Konsumentenstrom. Die Hintertür sprang zischend auf. Der Chauffeur half mir beim Einsteigen.
In dem geräumigen Inneren saß ein bärtiger Passagier und arbeitete an seinem Sony. Er strahlte Macht aus wie ein Logoman, nur viel stärker. Ich kauerte mich neben die Tür auf den Boden, betrachtete seine tippenden Finger, sein altes Gesicht und wartete auf Befehle. Herr Chang ließ den Motor an, und der Ford schob sich in den Verkehr. Durch das Heckfenster sah ich, wie die goldenen Bögen vom Papa Song mit hundert anderen Konzern-Logos verschmolzen. Einige kannte ich aus den AdVs, aber die meisten waren mir fremd. Ich staunte über diese Stadt mit den vielen neuen Zeichen. Fords sausten vorbei oder drosselten neben uns das Tempo. Welcher Seher sorgte dafür, dass es nicht tausend tödliche Zusammenstöße pro Minute gab? Der Ford bremste, und ich verlor das Gleichgewicht. Der bärtige Mann murmelte, dass niemand etwas dagegen hätte, wenn ich mich setzte.
Unsicher, ob es sich um einen Befehl oder eine Falle handelte, entschuldigte ich mich dafür, dass ich den richtigen Katechismus nicht kannte.
‹Mein Halsband ist Sonmi~451›, sagte ich, aber er rieb sich nur die geröteten Augen und fragte Herrn Chang nach dem Wetterbericht. ‹Warm, unbewölkt, windig›, antwortete der Chauffeur und fügte hinzu, dass die Fahrzeit wegen der vielen Staus circa neunzig Minuten betragen würde. Der Bärtige sah auf seine Rolex und fluchte.
Wir waren noch nicht
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