Der Wolkenatlas (German Edition)
lediglich eine Falle ausgemacht. «Sir, dieser Mast nicht Hauptmast, dieser Mast Besan, ja?» Cpt. Molyneux nickte mit unbewegter Miene. «Dann hole gefälligst das Royalsegel am Besanmaste ein.»
Autua stürmte geradezu den Mast hinauf, u. ich schöpfte neue Hoffnung, daß noch nicht alles verloren sei. Die aufgehende Sonne stand tief über dem Wasser u. ließ uns blinzeln. «Anlegen u. zielen», befahl der Capitain Mr. Boerhaave, als Autua oberhalb der Gaffel war, «Feuer auf mein Commando!»
Ich legte mit äußerster Schärfe Verwahrung dagegen ein, schließlich habe der Inder das heilige Sacrament der Taufe empfangen, doch Cpt. Molyneux befahl mir, den Mund zu halten oder nach den Chathams zurückzuschwimmen. Kein amerikanischer Capitain würde einen Menschen auf so widerwärtige Weise umbringen, nicht einmal einen Nigger. Autua erreichte die oberste Rahe u. beschritt sie trotz der schweren See mit der Geschicklichkeit eines Affen. Als wir das Segel fallen sahen, sprach einer der «alten Hasen» an Bord, ein harter, aber umgänglicher u. fleißiger Isländer, mit lauter Stimme seine Bewunderung aus. «Sapperlot, der Schwarze ist genauso ausgekocht wie ich, der hat Angelhaken an den Zehen!» Vor Dankbarkeit hätte ich ihm die Stiefel küssen können. Bald hatte Autua das Segel eingeholt – selbst für eine Gruppe von vier Mann eine schwierige Aufgabe. Cpt. Molyneux grunzte beifällig u. befahl Mr. Boerhaave, das Gewehr zu senken. «Aber ver—t will ich sein, wenn ich einem blinden Passagier auch nur einen Cent bezahle. Er soll seine Überfahrt bis Hawaii abarbeiten. Wenn er kein Drückeberger ist, wird er dort in der üblichen Weise in die Musterrolle eingetragen. Mr. Roderick, theilen Sie ihm die Koje des toten Spaniers zu.»
Ich habe eine ganze Feder verschlissen, um die Aufregungen dieses Tages wiederzugeben. Nun nimmt Dunkelheit mir die Sicht.
Mittwoch, 20. November ~
Scharfe östliche Brise, sehr salzig u. drückend. Henry hat seine Untersuchungen durchgeführt u. schlimme, wenn auch nicht die schlimmsten Neuigkeiten. Mein Leiden ist ein Parasit namens Gusano Coco Cervello. Dieser Wurm ist in ganz Melanesien u. Polynesien heimisch, der Wissenschaft aber erst seit zehn Jahren bekannt. Er vermehrt sich in den stinkenden Canälen Batavias, ohne Zweifel der Hafen, in dem ich mich angesteckt habe. Mit der Nahrung aufgenommen, gelangt er über die Blutbahn seines Wirthes in das cerebellum anterius des Gehirns. (Daher meine Migraine u. das Schwindelgefühl.) Dort eingenistet, tritt er in seine Reifezeit ein. «Sie sind ein Realist, Adam», meinte Henry, «daher werde ich Ihnen reinen Wein einschenken. Sobald die Larven schlüpfen, wird das Gehirn des Opfers zu einem von Maden zerfressenen Blumenkohl. Verwesungsgase lassen Trommelfelle u. Augäpfel hervortreten, bis sie schließlich platzen u. eine Wolke von Gusano-Coco- Sporen ausstoßen.»
So liest sich mein Todesurtheil, doch nun folgen die Aussetzung seiner Vollstreckung u. das Berufungsverfahren. Eine Mischung aus Urussium-Alkali u. Orinoco-Mangan wird meinen Parasiten einkalken, laphrydictische Myrrhe wird ihn zersetzen. Henrys «Apotheke» enthält diese Ingredencen, doch ist die richtige Dosierung von oberstem Gebote. Weniger als eine halbe Drachme läßt den Gusano Coco unbehelligt, mehr jedoch tötet den Patienten während der Behandlung. Wenn der Parasit stirbt, so warnt mich mein Arzt, zerplatzen seine Giftbeutel u. stoßen ihr Secret aus; folglich werde ich mich noch elender fühlen, bevor ich endgültig wiederhergestellt bin.
Henry untersagte mir strict, auch nur ein Sterbenswörtchen über meinen Zustand verlauten zu lassen, denn Hyänen wie Mr. Boerhaave stürzten sich auf jeden Verwundbaren, u. ungebildete Seeleute würden sich bei Krankheiten, welche sie nicht kennen, mitunter sehr feindselig gebärden. («Ich habe einmal von einem Seemanne gehört, der eine Woche nachdem sein Schiff von Macao zu der langen Reise nach Lissabon aufgebrochen war, die Symptome der Lepra zeigte», erinnerte sich Henry. «Die Mannschaft warf den armen Teufel ohne eine Anhörung über Bord.») Während meiner Genesung wird Henry das «Latrinengerücht» verbreiten, Mr. Ewing habe ein leichtes, vom hiesigen Klima verursachtes Fieber, u. mich eigenhändig pflegen. Er war gekränkt, als ich ihn auf seine Vergütung ansprach. «Vergütung? Sie sind kein hypochondrischer Viscount, der mit Banknoten seine Kissen polstert! Die Vorsehung hat Sie
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