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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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daran, daß wir unter englischer Flagge segelten, u. gab ihm zu bedenken, daß ich, wenn ich den blinden Passagier unter den Tauen versteckt hätte, wohl kaum seit Donnerstagabend fortwährend darum bitten würde, die unliebsamen Objecte zu entfernen, um so meine vermeintliche «Verschwörung» auffliegen zu lassen. Dieser Schuß ins Schwarze beflügelte meinen Eifer, u. ich versicherte Cpt. Molyneux, daß der getaufte blinde Passagier zu dieser drastischen Maßnahme gegriffen habe, um seinen Maori-Herrn, welcher gelobt habe, die warme Leber seines Sclaven zu verspeisen (ich «würzte» meine Darstellung der Vorgänge ein wenig), davon abzuhalten, seinen gottlosen Zorn auf seinen Retter zu lenken.
    Mr.   Boerhaave fluchte: «Soll das etwa heißen, der verd—e Neger will, daß wir ihm dankbar sind?» Nein, entgegnete ich, der Moriori bitte nur um eine Gelegenheit, seinen Werth für die Prophetess zu beweisen. Mr.   Boerhaave zischte: «Ein blinder Passagier bleibt ein blinder Passagier, selbst wenn er silberne Taler sch—t! Wie heißt er?» Ich wisse es nicht, antwortete ich, denn ich hätte den Mann nicht vernommen, sondern sei unverzüglich zum Capitain geeilt.
    Schließlich ergriff Cpt. Molyneux das Wort. «Ein fähiger Seemann erster Güte, sagen Sie?» Die Aussicht, einen werthvollen Matrosen zu gewinnen, den er nicht würde bezahlen müssen, hatte seinen Zorn gedämpft. «Ein Inder? Wo hat er sich seine Sporen verdient?» Zwei Minuten hätten nicht ausgereicht, seine Geschichte zu erfahren, wiederholte ich, doch mein Instinct verrate mir, daß der Inder ein anständiger Kerl sei.
    Der Capitain rieb sich den Bart. «Mr.   Roderick, begleiten Sie unseren Passagier u. seinen Instinct u. bringen Sie beider Lieblingswilden stehenden Fußes zum Besanmaste.» Er warf seinem Ersten Officier einen Schlüssel zu. «Mr.   Boerhaave, meine Vogelflinte, wenn ich bitten darf.»
    Der Zweite Officier u. ich thaten, wie uns befohlen. «Ein gewagtes Unternehmen», warnte mich Mr.   Roderick. «Das einzige Gesetzbuch an Bord der Prophetess sind die Marotten des Alten.» Das Gesetzbuch namens «Gewissen» gelte überall dort, wo Gott über seine Geschöpfe wache, erwiderte ich. Autua erwartete seinen Process in einer Baumwollhose, die ich in Port Jackson erworben hatte (er war aus Mr.   D’Arnoqs Boot nur mit seinem Lendenschurze u. einer Halskette aus Haifischzähnen an Bord gestiegen). Sein Rücken war nackt. Seine Wunden würden, so hoffte ich, Zeugniß von seiner Vertrauenswürdigkeit ablegen u. in den Herzen der Anwesenden Mitgefühl erwecken.
    Die Ratten hinter dem Arazzo verbreiteten die Kunde von dem bevorstehenden Gaudium, u. ein Großtheil der Mannschaft versammelte sich an Deck. (Henry, mein Verbündeter, lag noch im Bette, nichtsahnend, in welcher Gefahr ich schwebte.) Cpt. Molyneux musterte den Moriori, als wolle er einen Maulesel auf seine Tauglichkeit überprüfen, u. richtete das Wort an ihn: «Mr.   Ewing, der nichts darüber weiß, wie du an Bord meines Schiffes gelangt bist, sagt, du hieltest dich für einen Seemann.»
    Autua antwortete mit Muth u. Würde: «Jawohl, Capt’n, Sir, zwei Jahre auf Walfänger Mississippi aus Le Havre unter Cpt. Maspero u. vier Jahre auf Cornucopia aus Philadelphia unter Cpt. Caton, drei Jahre auf Indienfahrer …»
    Cpt. Molyneux unterbrach ihn u. deutete auf Autuas Hosen. «Hast du dieses Kleidungsstück unter Deck gestohlen?» Autua war sich dessen bewußt, daß ich gleichfalls unter Anklage stand. «Der Christ Gent’man da mir gegeben, Sir.» Die Blicke der Mannschaft folgte seinem Finger, u. Mr.   Boerhaave stürzte sich sofort auf den Widerspruch in meiner Verteidigungslinie. «Thatsächlich? Wann wurde dieses Geschenk überreicht?» (Ich erinnerte mich an den Wahlspruch meines Schwiegervaters: «Gib dich fasciniert, um einen Richter zu narren, doch gib dich gelangweilt, um das ganze Gericht anzuschmieren», u. so that ich, als würde ich ein Staubkorn aus meinem Auge wischen.) Autua antwortete gemäß meiner vorherigen Unterweisung: «Vor zehn Minuten, Sir, ich keine Kleider, der Gent’man sagen, nackt nicht gut, anziehen das.»
    «Wenn du ein Seemann bist», der Daumen unseres Capitains deutete in die Takelage, «dann zeig uns, wie du das Royalsegel am Hauptmaste einholst.» Der blinde Passagier wurde unsicher u. verlegen, u. ich glaubte schon, der Wahnwitz, mit dem ich auf das Wort des Inders gewettet hatte, würde sich gegen mich richten, doch Autua hatte

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