Der Wolkenatlas (German Edition)
bemerkten. Die Versorgungsschächte waren leer; wir stiegen unbehelligt in den Bauch der Arche hinunter. Die Metalltreppen schepperten unter unseren Nikes. Ein riesiger Motor produzierte hämmernde Geräusche. Mir war, als hörte ich Gesang. Hae-Joo studierte den Deckplan, öffnete eine Einstiegsluke und verharrte, um etwas zu sagen.
Er überlegte es sich anders, kletterte durch die Öffnung, half mir beim Einstieg und schloss die Luke hinter uns.
Wir befanden uns auf einem schwebenden Gang, der an der Decke eines großen Warteraums hing; er endete an einer Klappe und war so niedrig, dass wir nicht aufrecht stehen konnten. Durch das Bodengitter sah ich mehr als zweihundert Papa-Song-Bedienerinnen, die nacheinander durch ein Drehkreuz geschleust wurden. Yoonas, Hwa-Soons, Ma-Leu-Das, Sonmis und ein paar Bedienerinnen eines älteren, mir unbekannten Stammtyps. Meine X-Schwestern außerhalb eines Papa-Song-Doms zu sehen hatte etwas Traumhaftes. Sie sangen den Papa-Song-Psalm. Ihre Musik verschmolz mit den Antriebsgeräuschen im Hintergrund. Sie klangen so glücklich! Ihre Investition war getilgt; in Kürze fuhren sie nach Hawaii; bald würde ihr neues Leben im Elysium beginnen.
Hast du sie beneidet?
Ich beneidete sie um die Gewissheit ihrer Zukunft.
Circa alle fünfzig Sekunden führte ein Assistent die nächste Bedienerin durch die goldenen Bögen. Die Schwestern spendeten jedes Mal Applaus; der glückliche Zwölfstern drehte sich um, winkte ihnen zu und passierte das Kreuz, um sich in seine Kabine zu begeben. Jede Drehung des Kreuzes brachte einen Duplikanten seinem Ziel ein Stückchen näher. Schließlich stieß Hae-Joo meinen Fuß an und gab mir ein Zeichen, durch die Klappe in den dahinter liegenden Raum zu kriechen.
Hattet ihr keine Angst, entdeckt zu werden?
Unter dem Gang hingen grelle Lampen, sodass wir von unten nicht zu sehen waren. Außerdem waren wir keine Eindringlinge, sondern Techniker beim Ausführen ihrer Wartungsarbeiten.
Der nächste Raum war ein enge Zelle. Auf einem Podest stand ein Stuhl; dicht darüber hing ein unförmiger Helm, der über eine Schiene an der Decke geführt wurde. Drei lächelnde Assistenten in scharlachroter Papa-Song-Uniform brachten eine Bedienerin zu dem Stuhl. Einer erklärte ihr, dass der Helm das Halsband entfernen würde, wie es der Zehnte Katechismus versprach. ‹Danke, Assistent›, sprudelte es aus der aufgeregten Bedienerin heraus. ‹Vielen, vielen Dank!›
Die Sonmi bekam den Helm angelegt; im selben Augenblick wurde mir bewusst, wie viele Türen die Zelle hatte. Ich kam zu einer entsetzlichen Erkenntnis.
Was war so entsetzlich?
Es gab nur eine einzige Tür: die Tür zum Wartepferch. Wie hatten die vielen Bedienerinnen vor ihr diesen Raum verlassen? Aus dem Helm drang ein hartes, metallisches Geräusch, und ich blickte wieder zum Podest. Die Bedienerin sank in sich zusammen; in ihren verdrehten Augen war nur noch das Weiße zu sehen; das Kabel, das den Helm mit der Deckenschiene verband, straffte sich; der Helm bewegte sich langsam nach oben; die Bedienerin richtete sich auf und wurde von ihrem Stuhl gehoben. Ihre Leiche vollführte einen Stepptanz; ihr aufgeregtes, im Tode eingefrorenes Lächeln, wurde bis zum Reißen gedehnt, als sich die Haut unter der Last ihres Körpergewichts spannte. Ein Arbeiter saugte das Blut von dem Plastikstuhl; ein zweiter wischte mit einem Lappen nach. Der Helm mit der Leiche glitt an uns vorbei und verschwand durch eine Klappe im nächsten Raum. Während die drei Assistenten die nächste aufgeregte Bedienerin auf den Plastikstuhl setzten, senkte sich ein neuer Helm von der Decke.
Hae-Joo flüsterte mir ins Ohr: ‹Die da unten kannst du nicht mehr retten, Sonmi. Sie waren schon verloren, als sie das Schiff betraten.› Das war nur halb richtig: In Wahrheit waren sie schon im Bruttank verloren gewesen.
Der Helm schoss den Bolzen ab. Diesmal war das Opfer eine Yoona.
Was in diesem Raum geschah, war so grauenhaft, dass es sich weder in Bildern noch mit Worten angemessen beschreiben lässt; man muss es selbst miterleben.
Wir krochen durch eine Schallschleuse. Die Helme transportierten die Leichen in ein violett beleuchtetes Gewölbe; hinter der Klappe fiel das Celsius rapide ab, und der Lärm der Maschinen dröhnte uns in den Ohren.
Unter uns erstreckte sich ein langes Fließband wie in einem Schlachthaus. Von Kopf bis Fuß mit Blut beschmierte Gestalten schwangen Scheren, Schwertsägen und andere Werkzeuge, deren Namen ich
Weitere Kostenlose Bücher