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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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nicht kannte … die Szene glich einer sadistischen Höllenvision. Die Teufel schnitten den Leichen die Halsbänder ab, entkleideten sie, entfernten die Haare samt der Follikel, häuteten sie, trennten die Gliedmaßen ab, schnitten ihnen das Fleisch vom Körper und holten die inneren Organe heraus … Schläuche saugten das Blut auf … der Lärm war unerträglich.
     
    Aber … warum … wozu soll ein so … furchtbares Gemetzel dienen?
Die Genomikindustrie benötigt ungeheure Mengen an flüssiger Biomaterie, zum einen für die Bruttanks, vor allem aber für die Seifenproduktion. Lässt sich dieses Protein wirtschaftlicher erzeugen als durch das Recyceln von Duplikanten, die das Ende ihres Arbeitslebens erreicht haben? Außerdem werden aus den Resten des ‹gewonnenen› Proteins die Papa-Song-Produkte hergestellt, die in ganz Nea So Copros von den Konsumenten verzehrt werden.
     
    Nein! Man ermordet Bedienerinnen, damit Restaurants mit Nahrungsmitteln und Seife beliefert werden können? Nein! Das ist absurd! Ich will nicht bestreiten, dass du diese Dinge wirklich gesehen hast, aber es muss … es kann sich nur um eine Inszenierung handeln, mit der die Union dich einer Gehirnwäsche unterziehen wollte. Ein solches ‹Schlachtschiff› wird es niemals geben. Weder der Geliebte Vorsitzende noch die Juche würden etwas so Verwerfliches dulden! Der Staat belohnt die Arbeit der Duplikanten mit dem wohlverdienten Ruhestand. Sonst wäre die ganze Pyramide … eine perfide Lüge.
Geschäft ist Geschäft.
     
    Aber … warum kam das nicht im Prozess heraus?
Ich wiederhole es noch einmal, Archivar: Mein ‹Prozess› war kein Prozess, sondern ein Xempel der Meinungsbildung.
     
    Ja, aber die Vorwürfe, die du erhebst, sind … Grauen erregend!
So ist es, aber das Grauen ist nicht notgedrungen unmöglich. Kennen Sie jemanden, der schon einmal im Elysium gewesen ist? Wohin gehen die Bedienerinnen nach der Pensionierung? Und nicht nur sie: Was wird aus den vielen hunderttausend Duplikanten, die jedes Jahr ihr Arbeitsleben beenden? Wo liegen ihre BZs?
     
    Was ist mit den 3Ds aus Hawaii? Du hast sie im Papa Song am Chongmyo Plaza selbst gesehen. Da hast du den Beweis.
Das Elysium ist eine sonygenerierte Täuschung, die in Neo Edo gedigit wird. Auf dem echten hawaiianischen Archipel xistiert kein solcher Ort. Während meiner letzten Wochen im Papa Song hatte ich den Eindruck, als würden sich die Szenen aus dem Leben im Elysium wiederholen. Dieselbe Hwa-Soon lief über denselben Strand zu demselben Felsentümpel. Meine nicht aufgestiegenen Schwestern bemerkten es nicht, und auch ich hegte damals Zweifel, aber nun hatte ich eine Erklärung.
     
    Nein, ich kann das nicht akzeptieren … ich verstehe nicht … wie sich etwas so Böses in unserem zivilisierten Staat einnisten konnte. Das Recht von Nea So Copros beruht auf fairem Handel.
Meine Fünfte Erklärung legt dar, wie das Recht unterwandert wurde. Es ist ein Kreislauf, so alt wie der Tribalismus. Am Anfang steht die Unwissenheit. Unwissenheit erzeugt Angst. Angst erzeugt Hass, und Hass erzeugt Gewalt. Gewalt ruft neue Gewalt hervor, bis der Stärkste am Ende bestimmt, was Recht ist. Die Juche hat die Erschaffung, Unterwerfung und saubere Vernichtung eines riesigen Stamms betrogener Sklaven bestimmt.
     
    Deine Aussage bleibt unkommentiert stehen. Ich – wir müssen fortfahren … Wie lange hast du das Blutbad, das du beschreibst, mit angesehen?
Ich weiß es nicht mehr. Meine nächste Erinnerung ist, dass Hae-Joo mich durch die Kantine führte. Reinblüter spielten Karten, aßen Nudeln, rauchten, verschickten Mails, scherzten, beschäftigten sich mit den gewöhnlichen Dingen des Lebens. Wie konnten sie einfach so dasitzen, als wären sie auf einem Sardinenfrachter, obwohl sie wussten, was im Bauch des Schiffs vor sich ging? Der bärtige Wachmann strahlte mich an und sagte: ‹Komm bald wieder, Herzblatt.›
Die Pendler in der Metro schwankten hin und her; ich hatte die baumelnden Leichen in der Hinrichtungszelle vor Augen. Als ich das Treppenhaus hinaufstieg, sah ich, wie die toten Duplikanten zur Decke gezogen wurden. Hae-Joo schaltete den Solar nicht ein, als wir sein Zimmer betraten; er zog nur den Rollladen etwas hoch und ließ die Lichter der Stadt hereinschimmern. Dann goss er sich ein Glas Soju ein. Seit dem Verlassen des Schiffes hatten wir kein einziges Wort miteinander gesprochen.
Ich war die einzige meiner Schwestern, die das wahre Elysium gesehen hatte

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