Der Wolkenatlas (German Edition)
uns an; ihr Gesicht hellte sich auf; sie schien Hae-Joo zu kennen. ‹Nun-Hel Han!›, rief sie. ‹Es ist fast zwölf Monate her! Wenn die Gerüchte über deine Raufereien nur zur Hälfte wahr sind, fresse ich einen Besen! Wie war’s auf den Philippinen?›
Hae-Joo sprach plötzlich mit hartem, kratzigem Akzent; er klang so fremd, dass ich mich schnell vergewisserte, ob noch derselbe Mann neben mir stand. ‹Mit denen geht’s bergab, Frau Lim, rapide bergab.› Halb im Scherz erkundigte er sich, ob sie sein Zimmer weitervermietet hatte.
‹Dies ist ein seriöses Haus!› Sie blätterte mit gespielt beleidigter Miene in einem Rechnungsbuch, wies ihn aber darauf hin, dass sie eine frische Dollarspritze bräuchte, falls er beim nächsten Mal wieder so lange fortblieb. Das Fallgitter hob sich, und sie sah mich an: ‹Wenn dein süßer Käfer mehr als eine Woche bleibt, Nun-Hel, wird die doppelte Miete fällig. Hausregel. Dein Pech, wenn dir das nicht passt.›
Matrose Nun-Hel Han erwiderte, ich würde nur ein bis zwei Nächte bleiben.
‹Eine in jedem Hafen›, sagte die Wirtin mit boshaftem Grinsen. ‹Dann stimmt es also doch, was man über euch sagt.›
War sie von der Union?
Nein. Unterschlupfwirtinnen verraten ihre eigene Mutter für einen Dollar; mit dem Verrat an Unionlern könnten sie weitaus mehr verdienen. Aber Unterschlupfwirtinnen wimmeln Neugierige ab, erklärte mir Hae-Joo, und bieten außerdem eine erstklassige Tarnung. Auf der schmutzigen Treppe waren streitende Stimmen und 3D-Geräusche zu hören; allmählich gewöhnte ich mich an das Treppensteigen. Im neunten Stock gingen wir über einen bedrückenden Korridor. Hae-Joo zog einen unauffällig versteckten Zahnstocherstummel aus der Türangel und meinte, dass die Pensionsleitung offenbar einem schlimmen Anfall von Ehrlichkeit erlegen sei.
Das Zimmer bestand aus einer stinkenden Matratze, einer aufgeräumten Küchenzeile und einem Schrank mit Kleidung für verschiedene Jahreszeiten. Dazu gab es ein Digi-Kodak mit weißen Nutten, die rittlings auf Nun-Hel Han und zwei Freunden saßen, Souvenirs aus den zwölf BZs und kleinen Hafenstädten und natürlich ein Kodak unseres Geliebten Vorsitzenden. Auf einer Bierdose lag eine angerauchte Marlboro mit Lippenstiftspuren. Der Rollladen vor dem Fenster war heruntergelassen.
Hae-Joo duschte und zog sich um für ein Treffen seiner Zelle, das die ganze Nacht dauern würde. Er ermahnte mich, den Rollladen unten zu lassen und nur dann an die Tür oder ans Fon zu gehen, wenn Apis oder er sich mit folgendem Code meldeten: DIES SIND DIE TRÄNEN DER DINGE schrieb er auf ein Stück Papier und verbrannte es sofort in einem Aschenbecher. ‹Deine Seife liegt im Kühlschrank›, sagte er und versprach, am nächsten Morgen gleich nach der Ausgangssperre zurück zu sein.
Gebührte einem so verdienstvollen Überläufer nicht ein feierlicherer Empfang?
Feierliche Empfänge wirbeln Staub auf. Ich informierte mich am Sony über Pusans Geografie, trank meine Abendseife, duschte und schlief, bis Hae-Joo um Stunde Sechs dreißig mit einer stinkenden Tüte Ttōkbukgis vom Imbiss zurückkam. Er sah erschöpft aus. Ich machte ihm einen Starbuck – ein guter Trick aus meiner Zeit als Bedienerin. Er trank ihn dankbar. Dann bat er mich, ans Fenster zu gehen und mir die Augen zuzuhalten.
Ich gehorchte. Der eingerostete Rollladen quietschte. ‹Nicht gucken …›, befahl Hae-Joo. ‹Jetzt kannst du die Augen aufmachen.›
Sonnenbeschienene Dächer, Schnellstraßen, Pendlersilos, AdVs, Beton … und dahinter, ganz weit in der Ferne, senkte sich der Bauch des Himmels hinab zu etwas, wo alles Leid der Worte ‹Ich bin› sich in friedliches Blau auflöste.
Er sagte es. ‹Der Ozean.›
Du hattest noch nie den Ozean gesehen?
Nur auf Sony, in Papa Songs 3Ds über das Leben im Elysium und in Yoonas Buch, aber nie den echten Ozean, nie mit eigenen Augen. Ich sehnte mich danach, ihn zu berühren und an seinem Ufer entlangzuschlendern. Aber Hae-Joo meinte, es sei am sichersten, wenn wir uns tagsüber versteckt hielten, bis man uns an einem geschützteren Ort untergebracht hatte. Dann legte er sich auf die Matratze und begann sofort zu schnarchen.
Stunden vergingen; ich beobachtete die Frachter und Marineschiffe, die in den blauen Häuserlücken vorbeizogen. Auf den umliegenden Dächern lüfteten Subschichtlerinnen zerschlissenes Bettzeug. Später bedeckte sich der Himmel; Aeros flogen lärmend durch gepanzerte Wolken. Ich setzte
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