Der Wolkenatlas (German Edition)
soll sie wohl sonst stinken? … Natürlich tun sie das, aber man kommt kaum hinterher, es … läuft einfach so raus.» Er stieg in den Range Rover und brauste die Auffahrt hinunter. Ich dachte kurz daran, ihm hinterherzulaufen und im letzten Moment durchs Tor zu flitzen, doch dann fiel mir mein Alter ein. Die Überwachungskamera würde mich sowieso entdecken, und bevor ich ein Auto anhalten könnte, hätte Withers mich wieder eingefangen.
«Der Sohn von Mrs. Hotchkiss», sagte Veronica. «Sie war eine Seele von Mensch, aber ihr Sohn, oje. Man besitzt die Hälfte aller Hamburgerketten in Leeds und Sheffield nicht, weil man nett ist. Am nötigen Kleingeld mangelt es der Familie jedenfalls nicht.»
Ein Denholme im Kleinformat. «Na ja, wenigstens besucht er sie.»
«Und wissen Sie, warum?» Ein boshaftes, anziehendes Funkeln trat in die Augen der alten Dame. «Als Mrs. Hotchkiss Wind davon bekam, dass er sie ins Haus Aurora schicken wollte, stopfte sie den ganzen Familienschmuck in einen Schuhkarton und vergrub ihn. Jetzt weiß sie nicht mehr, wo, und falls sie es doch noch weiß, verrät sie es nicht.»
Ernie verteilte die letzten Whiskeytropfen. «Es bringt mich auf die Palme, wenn er den Zündschlüssel stecken lässt. Jedes Mal. In der wirklichen Welt würde er das niemals tun. Aber wir sind so klapprig, so harmlos, dass er nicht mal daran denkt, ihn abzuziehen.»
Ich fand es ungehörig, Ernie zu fragen, warum ihm solche Dinge überhaupt auffielen. Er hatte sein Lebtag nie ein überflüssiges Wort verloren.
Ich stattete dem Heizungsraum täglich einen Besuch ab. Die Whiskeyversorgung war sporadisch, nicht aber die Gesellschaft. Mr. Meeks fungierte als der schwarze Labrador eines lange verheirateten Paares, dessen Kinder aus dem Haus sind. Ernie gab gern trockene Anekdoten aus seinem Leben und Folkloristisches aus Haus Aurora zum Besten, während seine Quasigattin sich über nahezu alle erdenklichen Themen unterhalten konnte. Veronica verfügte über eine umfangreiche Autogrammkartensammlung von Halbberühmtheiten. Sie war ausreichend belesen, um meine literarischen Aperçus zu würdigen, aber nicht belesen genug, um die Quellen zu erkennen. Ich mag das bei einer Frau. Wenn ich etwa sagte: «Der Unterschied zwischen Glücklichsein und Freude besteht darin, dass Glücklichsein fest und Freude flüssig ist», kam ich mir dank ihrer Unkenntnis J. D. Salingers geistreich, charmant und, ja, sogar jugendlich vor. Ich merkte zwar, dass Ernie meine Angebereien missmutig beäugte, aber ich scherte mich nicht darum. Was soll’s, ein Mann darf ruhig flirten.
Veronica und Ernie waren Überlebenskünstler. Sie machten mich auf die Gefahren von Haus Aurora aufmerksam: Der Mief nach Urin und Desinfektionsmittel, das Schlurfen der Untoten, die Bosheit der Noakes und die Vollverpflegung veränderten die Vorstellung von «Normalität». Sobald die Tyrannei als Normalität hingenommen werde, sei, so Veronica, ihr Sieg unaufhaltsam.
Ihretwegen riss ich mich mächtig am Riemen. Ich schnitt mir die Nasenhaare und borgte mir Ernies Schuhcreme. Wienere jeden Abend deine Schuhe , pflegte mein alter Herr zu sagen, dann bist du wer . Wenn ich zurückblicke, nahm Ernie mein Balzgehabe hin, weil er wusste, dass Veronica nur Rücksicht auf mich nahm. Ernie hatte sein Lebtag noch kein literarisches Werk gelesen – «ich mache mir mehr aus Radio» –, doch wenn ich zusah, wie er die viktorianische Kesselanlage wieder einmal mit viel Geschick in Gang setzte, kam ich mir immer seicht vor. Es stimmt, übermäßige Romanlektüre macht blind.
Meinen ersten Fluchtplan, so simpel gestrickt, dass er die Bezeichnung kaum verdiente, heckte ich alleine aus. Er erforderte Willenskraft, eine homöopathische Dosis Mut, aber keinerlei Grips. Ein nächtliches Telefonat aus Schwester Noakes Büro mit dem Anrufbeantworter von Cavendish Publishings. Ein SOS-Ruf an Mrs. Latham, deren halbstarker Neffe einen dicken Ford Capri hat. Die beiden fahren vor Haus Aurora vor, ich steige unter Drohungen und Protesten ein, das Nefflein braust davon. Das war’s. In der Nacht zum 15. Dezember (glaube ich zumindest) stand ich im Morgengrauen auf, zog meinen Bademantel über und trat hinaus auf den dunklen Flur. (Meine Zimmertür wurde nicht mehr abgeschlossen, seit ich mich tot stellte.) Stille, bis auf Schnarchgeräusche und rauschende Wasserleitungen. Ich dachte an Hilary V. Hushs Luisa Rey, die in Swannekke B herumschlich. (Man
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