Der Wolkenatlas (German Edition)
Withers dicht hinter uns Gift und Galle spuckte. Ernie kurbelte das Fenster herunter und schrie in Richtung Haus Aurora: «Kloooooppsköpfeeeeeee!» Ich gab Gas. Die Reifen wühlten Kies auf, der Motor kam auf Touren, und Haus Aurora verschwand in der Dunkelheit. Verfluchter Mist, wenn deine Eltern sterben, ziehen sie bei dir ein.
«Straßenkarte?» Ernie wühlte im Handschuhfach. Bis jetzt hatte er unter anderem einen Sonnenbrille und eine Tüte Karamellbonbons ausgegraben.
«Nicht nötig. Ich habe mir die Route eingeprägt. Ich kenne sie wie meine eigene Westentasche. Jede Flucht besteht zu neun Zehnteln aus Logistik.»
«Von den Autobahnen halten Sie sich besser fern. Die haben heutzutage Kameras und was weiß ich nicht alles.»
Ich dachte über meinen Berufswechsel vom Verleger zum Autodieb nach. «Ich weiß.»
Veronica gab eine glänzende Parodie auf Mr. Meeks. «Ich weiß ! Ich weiß !»
Ich lobte sie für die frappierende Echtheit ihrer Imitation.
Schweigen. «Ich habe nichts gesagt.»
Ernie drehte sich um und schrie überrascht auf. Als ich in den Spiegel sah und Mr. Meeks erblickte, der zuckend im hintersten Winkel des Wagens kauerte, wäre ich fast in den Straßengraben gefahren. Wie …», setzte ich an. «Wann … wer …»
«Mr. Meeks!», girrte Veronica. «So eine nette Überraschung.»
«Überraschung?», rief ich. «Verflucht, er hat alle Gesetze der Physik ad absurdum geführt!»
«Wir können wohl kaum zurück nach Hull fahren», stellte Ernie nüchtern fest, «und um ihn rauszusetzen, ist es zu kalt. Morgen früh wäre er zum Eisblock gefroren.»
«Wir sind aus Haus Aurora abgehauen, Mr. Meeks», erklärte Veronica.
«Ich weiß», blökte der beschickerte alte Trottel. «Ich weiß.»
«Einer für alle, alle für einen, nicht wahr?»
Mr. Meeks gluckste leise vor sich hin und summte Karamellbonbons lutschend «Die britischen Grenadiere», während sich der Range Rover Kilometer um Kilometer Richtung Norden fraß.
Ein Schild leuchtete im Licht der Scheinwerfer auf: THAWICKE CROSS – BITTE VORSICHTIG FAHREN. Hier hatte Ernie das Ende unserer Reiseroute mit einem dicken roten X markiert, und nun begriff ich auch, warum. Eine rund um die Uhr geöffnete Tanke an einer Bundesstraße – und gleich daneben ein Pub namens Hanged Greyhound. Obwohl es weit nach Mitternacht war, brannte noch Licht. «Halten Sie vor dem Pub. Ich gehe einen Kanister Benzin holen, damit uns niemand sieht. Dann plädiere ich für ein schnelles Bier, zur Feier unserer gelungenen Arbeit. Der Blödmann Johns hat sein Jackett im Wagen liegen lassen, und darin steckt – ta taaa!» Ernie zückte eine Brieftasche von der Größe meines Aktenkoffers. «Er kann’s sich bestimmt leisten, uns einen auszugeben.»
«Ich weiß !», rief Mr. Meeks begeistert. «Ich weiß!»
«Ein Drambuie Soda», entschied Veronica, «wäre jetzt genau das Richtige.»
Fünf Minuten später kam Ernie mit dem Kanister zurück. «Alles paletti.» Er goss das Benzin in den Tank, dann gingen wir über den Parkplatz zum Hanged Greyhound. «Frisch heute Abend», sagte Ernie und bot Veronica seinen Arm an. Saukalt war es, und ich zitterte wie Espenlaub. «Und der wunderschöne Mond, Ernest», fügte Veronica hinzu, während sie sich bei ihm einhakte. «Eine herrliche Nacht zum Durchbrennen!» Sie kicherte wie eine Sechzehnjährige. Ich hielt den alten Dämon Eifersucht im Zaum. Mr. Meeks war wackelig auf den Beinen, und ich half ihm bis zum Eingang, wo eine Tafel mit «Das Mega-Match!» warb. In der warmen Höhle saß ein Haufen Leute vor der Glotze und sah sich ein Fußballspiel in einer fernen, strahlend hellen Zeitzone an. England lag in der einundachtzigsten Minute mit einem Tor gegen Schottland zurück. Niemand nahm Notiz von uns. England gegen Schottland, im Ausland, im tiefsten Winter – war denn schon wieder Fußballweltmeisterschaft? Verflucht, ich kam mir vor wie Rip van Winkle.
Ich bin kein Freund von Fernsehpubs, aber wenigstens spielte keine dröhnende Bum-bum-bum-Musik, und dieser Abend in Freiheit war ein kostbares Gut. Ein Hütehund räumte seinen Platz auf einer Bank vor dem Kamin. Ernie übernahm die Bestellung der Getränke, weil er meinte, mein Akzent klinge so stark nach Süden, dass der Barkeeper möglicherweise in mein Glas spucken würde. Ich nahm einen doppelten Kilmagoon und die teuerste Zigarre, die der Pub zu bieten hatte, Veronica bestellte ihren Drambuie Soda, Mr. Meeks ein
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