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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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meiner Obhuth zugeführt, denn ich bezweifle, daß es im blauen Pacifik auch nur fünf Menschen giebt, die Sie curieren könnten. Also, ein Salaire wär nicht fair! Alles, was ich verlange, lieber Adam, ist, daß Sie ein folgsamer Patient sind! Ziehen Sie sich in Ihre Kajüte zurück u. nehmen Sie meine Pulver, wenn ich bitten darf! Nach der Hundewache schaue ich bei Ihnen herein.»
    Mein Arzt ist ein ungeschliffener Diamant von reinstem Wasser. Noch jetzt, während ich diese Zeilen schreibe, weine ich Tränen der Dankbarkeit.
     
    Sonnabend, 30. November ~
     
    Henrys Pulver sind fürwahr eine wunderbare Arzney. Ich schnupfe die kostbaren Körnchen von einem Elfenbeinlöffel, u. im selben Augenblicke flammt in meinem Inneren eine glühende Freude auf. Meine Sinne sind hellwach, aber die Glieder werden träge. Nachts krümmt sich mein Parasit wie der Finger eines Neugeborenen u. entfacht schmerzhafte Krämpfe. Gräßliche, obszöne Träume suchen mich heim. «Ein sicheres Zeichen», tröstet mich Henry, «daß Ihr Wurm auf unser Mittel reagiert u. Schutz in jenen Schlupfwinkeln Ihrer Hirnwindungen sucht, wo die Traumbilder entspringen. Aber Gusano Coco versteckt sich vergeblich, lieber Adam, vergeblich! Wir werden ihm den Garaus machen!»
     
    Montag, 2. December ~
     
    Tagsüber ist mein Sarg heiß wie ein Ofen, u. mein Schweiß befeuchtet diese Seiten. Die Tropensonne steht dick u. prall am Mittagshimmel. Die Männer arbeiten mit nackten, sonnenverbrannten Oberkörpern u. Strohhüten auf dem Kopfe. Die Planken triefen von glühendheißem Teere, der an den Sohlen haften bleibt. Regenböen kommen aus dem Nichts, verschwinden ebenso plötzlich, u. eine Minute später ist das Wasser auf Deck verdunstet. Portugiesische Kriegsschiffe tanzen auf der quecksilbrigen See, fliegende Fische betören den Betrachter, u. Hammerhaie kreisen als ockerbraune Schatten um die Prophetess. Vorhin trat ich auf einen Tintenfisch, der sich aus eigener Kraft über das Schanzkleid catapultiert hatte! (Seine Augen u. sein Maul gemahnten mich an meinen Schwiegervater.) Das Trinkwasser, welches wir auf der Chatham-Insel an Bord nahmen, ist inzwischen brackig, u. wenn nicht ein Schuß Brandy darin ist, rebelliert mein Magen. Wenn wir nicht in Henrys Kajüte oder in der Messe Schach spielen, ruhe ich in meinem Sarge, bis Homer mich mit Träumen von athenischen Segeln in den Schlaf lullt.
    Autua klopfte gestern an meine Thür, um mir dafür zu danken, daß ich ihm den Hals gerettet habe. Er sagte, er stehe in meiner Schuld (wohl wahr), bis er eines Tages mein Leben retten würde (möge dieser niemals heraufdämmern!). Ich frug ihn, wie ihm seine neue Aufgabe gefalle. «Besser wie Sclave sein für Kupaka, Missa Ewing.» Als er jedoch meine Besorgnis spürte, jemand könne unser Zwiegespräch belauschen u. Cpt. Molyneux davon berichten, kehrte der Moriori zum Vorschiffe zurück u. hat mich seitdem nicht mehr aufgesucht. Es ist, wie Henry sagt: «Einem Schwarzen einen Knochen hinzuwerfen ist eine Sache, sich seiner ein Leben lang anzunehmen eine gänzlich andere! Freundschaft zwischen den Menschenrassen, Ewing, kann niemals mehr sein als die Zuneigung zwischen einem treuen Jagdhunde u. seinem Herrn.»
    Allabendlich, bevor wir uns zur Ruhe begeben, unternehmen der Doctor u. ich einen Spaziergang an Deck. Die abgekühlte Luft zu atmen ist eine Wohlthat. Das Auge verliert sich in den phosphoreszierenden Bahnen der See u. dem Mississippi aus Sternen am Himmelszelte. Gestern abend war die Mannschaft im Vorderdeck versammelt u. flocht im Laternenlichte Tauwerk aus Seegras. Das Verbot für «Überzählige», sich im Vorderdeck aufzuhalten, schien keine Gültigkeit zu haben. (Seit dem «Autua-Zwischenfall» ist die Geringschätzung gegenüber «Mr.   Federschwanz» ebenso verebbt wie der Gebrauch selbigen Schimpfnamens.) Krummnagel sang zehn Strophen über die Bordelle dieser Welt, schmutzig genug, um selbst den lüsternsten Satyr in die Flucht zu schlagen. Henry gab freiwillig eine elfte Strophe zum besten (über Mary O’Hairy aus Inverary), was die Atmosphäre noch schlüpfriger machte. Rafael wurde als nächster zu einem Beitrage genöthigt. Er saß auf dem «Witwenmacher» u. sang mit ungeschulter, aber ehrlicher, wahrhaftiger Stimme folgendes Lied:
     
Oh, Shenandoah, I long to see you,
Hurrah, you rolling river.
Oh, Shenandoah, I’ll not deceive you,
We’re bound way ’cross the wide Missouri.
Oh, Shenandoah, I love your daughter,
I love the

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