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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Möglichkeiten:
    (I) Nehme mir mit meinen armseligen Mitteln ein schmuddeliges Zimmer in einer Pension, erbettle ein paar Guineas von der Onkel Cecil GmbH, bringe zickigen Fräuleins Tonleitern und verbitterten alten Jungfern Technik bei. Ach, komm. Wenn ich Hohlköpfen Liebenswürdigkeit vorheucheln könnte, würde ich wie meine einstigen Kommilitonen Professor Mackerass noch heute den Arsch abwischen. Nein, erspar Dir die Worte, ich kann nicht mit noch einem cri de cœur wieder zu Pater laufen. Jedes bösartige Wort, das er über mich sagte, wäre bestätigt. Lieber springe ich von der Waterloo Bridge in die Themse und sterbe einen demütigenden Tod. Ehrlich.
    (II) Spüre Leute vom Caius auf, schmiere ihnen Honig um den Bart und lade mich für den Sommer bei ihnen ein. Schwierig, aus selbigen Gründen wie (I). Wie lange könnte ich meine darbende Brieftasche verheimlichen? Wie lange könnte ich mich ihrem Mitleid, ihren Klauen entziehen?
    (III) Suche den Buchmacher auf – aber was, wenn ich verliere?
    Du würdest mich jetzt daran erinnern, daß ich mir das alles selbst eingebrockt habe, Sixsmith, aber befreie Dich von diesem bürgerlichen Komplex und bleibe noch ein bißchen bei mir. Auf einem überfüllten Bahnsteig meldete ein Schaffner, daß sich der Zug nach Dover zum Schiff nach Ostende um dreißig Minuten verspäten werde. Dieser Schaffner war mein Croupier, der mich aufforderte, alles auf eine Karte zu setzen. Wir müssen nur den Mund halten und ruhig zuhören – und siehe da, schon ordnet uns die Welt unsere Gedanken, besonders in einem verdreckten Londoner Bahnhof. Stürzte meinen seifigen Tee hinunter und eilte durch die Halle zum Billettschalter. Die Hin- und Rückfahrt nach Ostende war zu teuer – so prekär ist meine Lage inzwischen –, also blieb es bei hin. Betrat gerade mein Abteil, als die Lokomotive ein furioses Piccoloflötensolo anstimmte. Die Fahrt ging los.
    Doch nun zu meinem Plan, inspiriert von einem Bericht in der Times und den Träumereien während eines ausgiebigen Bades in meiner Suite im Savoy. In der belgischen Provinz, südlich von Brügge, lebt ein einsiedlerischer englischer Komponist namens Vyvyan Ayrs. Du als Musikbanause wirst noch nicht von ihm gehört haben, aber er ist einer der ganz Großen. Der einzige Brite seiner Generation, der alles Prunkvolle, Förmliche, Rustikale und Liebliche zurückweist. Hat wegen Krankheit seit den frühen Zwanzigern nichts mehr hervorgebracht – er ist ½blind und kaum imstande, eine Feder zu halten – doch die Times sprach in ihrer Kritik über sein Profanes Magnificat (letzte Woche in St. Martin’s aufgeführt) von einer ganzen Schublade mit unvollendeten Werken. In meinem Tagtraum reiste ich nach Belgien, überzeugte Vyvyan Ayrs, daß er dringend einen Assistenten benötige, nahm sein Angebot an, mich zu unterrichten, schoß hoch hinauf ans musikalische Firmament, erwarb den meinen Gaben angemessenen Ruhm und Reichtum und nötigte Pater zuzugeben, daß der Sohn, den er enterbt hat, der Robert Frobisher ist, bedeutendster britischer Komponist seiner Zeit.
    Warum nicht? Etwas Besseres fiel mir nicht ein. Du stöhnst und schüttelst den Kopf, Sixsmith, ich weiß, aber Du lächelst auch, und dafür liebe ich Dich. Fahrt zum Kanal verlief ereignislos … wuchernde Vorortgeschwüre, ödes Ackerland, schmutziges Sussex. Dover zutiefst erschreckend, voll mit Bolschewiken, die vielbesungenen Klippen so romantisch wie mein Arsch und von ähnlicher Farbe. Tauschte am Hafen meine letzten Shillings in Francs und bezog meine Kabine an Bord der Kentish Queen , eines rostigen Kahns, der seinem Aussehen nach schon auf der Krim im Einsatz war. Kartoffelgesichtiger junger Steward und ich waren uneins, ob seine burgunderrote Uniform und der gar nicht überzeugende Bart ein Trinkgeld verdienten. Spottete über meine Reisetasche und die Notenmappe – «Kluge Entscheidung, mit leichtem Gepäck zu reisen, Sir» – und überließ mich mir selbst. War mir nur recht.
    Zum Abendessen Balsaholz-Hühnchen, zerfallene Kartoffeln und ein hundsmiserabler Bordeaux. Mein Tischgenosse war Mr.   Victor Bryant, Besteckdynast aus Sheffield. Nicht ein Fünkchen Musikalität im Leib. Den Großteil des Essens erging er sich zum Thema Löffel, verwechselte mein höfliches Benehmen mit Interesse und bot mir vom Fleck weg eine Stellung in seiner Verkaufsabteilung an! Ist es nicht unglaublich? Bedankte mich (mit unbewegter Miene) und gestand ihm, ich würde lieber ein

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