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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Morgen über New England. Labyrinthische Vororte, elfenbeinfarbene Eigenheime, seidig glänzende Rasenflächen und türkisfarbene Swimmingpools. Das Fenster des firmeneigenen Jets kühlt sein Gesicht. Im Gepäckraum, zwei Meter unter seinem Sitz, liegt ein Koffer, der genug C4 enthält, um aus einem Flugzeug einen Meteor zu machen. Du bist also deinem Gewissen gefolgt, denkt Sachs . Luisa Rey hat den Sixsmith-Bericht. Er versucht sich ihr Gesicht so exakt wie möglich ins Gedächtnis zu rufen. Was empfindest du? Zweifel? Erleichterung? Angst? Genugtuung?
    Eine dunkle Ahnung, dass ich sie nie wiedersehen werde.
    Alberto Grimaldi, der Mann, den er hintergangen hat, lacht über die Bemerkung eines Beraters. Die Stewardess bringt ein Tablett mit klirrenden Gläsern. Sachs flüchtet sich in sein Notizbuch und schreibt:
     
Erläuterung: Das Wirken der realen + der virtuellen Vergangenheit lässt sich vielleicht am besten an einem kollektiven historischen Ereignis wie dem Untergang der Titanic illustrieren. Die Katastrophe, die sich real zugetragen hat, gerät zunehmend in Vergessenheit, je mehr Augenzeugen sterben, Dokumente verschwinden + das Schiffswrack in seinem atlantischen Grab zerfällt. Der virtuelle Untergang der Titanic , der durch bearbeitete Erinnerungen, Zeitungsberichte, Gerüchte, erfundene Geschichten – also kurz gesagt, durch den Glauben – entsteht, wird indes zunehmend «wahrer». Die reale Vergangenheit ist zerbrechlich; sie wird stetig unschärfer, unzugänglicher + schwieriger zu rekonstruieren. Die virtuelle Vergangenheit ist dagegen formbar; sie wird immer klarer + schwieriger zu umgehen/als Täuschung zu entlarven.
Die Gegenwart macht sich die virtuelle Vergangenheit zu Diensten, um ihren Mythen Glaubwürdigkeit zu verleihen + ihre Machtansprüche zu legitimieren. Die Macht begehrt + besitzt das Recht, die virtuelle Vergangenheit nach eigener Willkür zu formen. (Wer den Historiker bezahlt, gibt auch den Ton an.)
Die Symmetrie erfordert auch eine reale + eine virtuelle Zukunft . Wir stellen uns vor, was nächste Woche, nächstes Jahr oder 2225 passieren wird – eine virtuelle Zukunft, die aus Wünschen, Prophezeiungen + Tagträumen entsteht. Diese virtuelle Zukunft kann die reale Zukunft wie bei einer Selffulfilling Prophecy beeinflussen, doch die reale Zukunft wird unsere virtuelle Zukunft ebenso sicher in den Schatten stellen wie der morgige Tag den heutigen. Wie eine Utopie existieren die reale Zukunft + die reale Vergangenheit nur in nebelhafter Ferne, wo sie für niemanden von Nutzen sind.
Frage: Gibt es einen essentiellen Unterschied zwischen dem einen Scheinbild aus Rauch, Spiegeln + Schatten – der realen Vergangenheit – und dem anderen – der realen Zukunft?
Ein Zeitmodell: eine unendliche Matrioschka aus gemalten Augenblicken. Jede Puppe (die Gegenwart) wird von anderen Puppen (früheren Gegenwarten) umschlossen, die ich die reale Vergangenheit nenne, die von uns aber als virtuelle Vergangenheit wahrgenommen wird. Gleichfalls umschließt die Puppe des «Jetzt» die Puppen künftiger Gegenwarten, die ich die reale Zukunft nenne, die von uns aber als virtuelle Zukunft wahrgenommen wird.
Aussage: Ich habe mich in Luisa Rey verliebt.
 
    Die Sprengkapsel wird gezündet. Die Bombe detoniert. Das Flugzeug wird von einem Feuerball verschlungen. Die Metall- und Plastikteile, die Elektronik, die Passagiere, ihre Knochen, Kleidungsstücke, Notizbücher und Gehirne schmelzen in den über 1200 Grad heißen Flammen. Die noch nicht Geborenen und die Toten existieren allein in unseren realen und in unseren virtuellen Vergangenheiten. Ab jetzt laufen diese beiden Vergangenheiten v-förmig auseinander.
     
    42
     
    «Betty und Frank mussten dringend ihre Finanzen aufbessern», erzählt Lloyd Hooks seinem Frühstückspublikum im Swannekke Hotel. Ein Zirkel aus Novizen und Lakaien hört dem Energieguru gebannt zu. «Also beschließen sie, dass Betty anschaffen geht, damit Bares in die Kasse kommt. Als es dunkel wird, fährt Frank Betty zum Straßenstrich, wo sie ihrem neuen Gewerbe nachgehen soll. ‹He, Frank›, sagt Betty. ‹Wie viel soll ich nehmen?› Frank rechnet und antwortet: ‹Hundert Mäuse fürs volle Programm.› Betty steigt aus, und Frank parkt in einer ruhigen Seitenstraße. Kurz darauf fährt ein Mann in einem zerbeulten alten Chrysler vor und spricht Betty an. ‹Wie viel für die ganze Nacht, Süße?› ‹Hundert›, antwortet Betty. ‹Ich habe nur dreißig›, sagt der

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