Der Wolkenatlas (German Edition)

nochmal, wenn Dermot «Duster» Hoggins einen Bestseller schreiben und verfilmen lassen kann, warum dann nicht auch Timothy «Lazarus» Cavendish? Schreib Schwester Noakes ins Skript, vor Gericht, unters Beil. Die Frau war ehrlich – das sind Frömmler meistens –, aber darum nicht weniger gefährlich, und dafür soll sie genannt und geschmäht werden. Die Lappalie mit Johns Hotchkiss’ geliehenem Auto muss mit Diskretion behandelt werden, doch es wurden schon heiklere Dinge unter den Teppich gekehrt. Mrs.   Latham hat Hilary   V. Hushs E-Mail-Adresse aufgetan, um unser Interesse an Halbwertszeiten zu bekunden, und vor nicht einmal einer Stunde brachte der Postbote den zweiten Teil. Es lag ein Foto bei, und, man höre und staune, das   V. steht für Vincent! Und was für ein Fettwanst! Ich selbst bin auch kein Chippendale, aber Hilary benötigt nicht nur zwei, sondern gleich drei Sitze in der Economyclass. Mal sehen, ob Luisa Rey noch in irgendeiner Ecke meines neuen Quasibüros, dem Whistling Thistle, liegt, einer finsteren Schenke mit der Ausstrahlung einer schiffbrüchigen Galeone, in der Maria, Königin von Schottland, einst den Teufel anrief, damit er ihr in ihrer Sache beistehe. Der Wirt, dessen Doppelte im Londinium der Unternehmensberater als Vierfache über den Tresen gehen, schwört hoch und heilig, Ihrer unglücklichen Majestät regelmäßig zu begegnen. In vino veritas.
    Das war mehr oder weniger alles. Die mittleren Lebensjahre sind vorbei, doch ob wir in die Welt der Untoten verbannt oder gerettet werden, ist keine Frage des Alters, sondern unserer Einstellung. Im Reich der Jugend haust so manche untote Seele. Nur weil die jungen Leute sich so hetzen, bleibt ihre innere Fäulnis ein paar Jahrzehnte lang verborgen. Draußen fallen dicke Schneeflocken auf die Schieferdächer und Granitmauern. Wie Solschenizyn in New York werde ich in meinem Exil fleißig ackern, weit fort von der Stadt, die meine Knochen zusammenschweißte.
    Wie Solschenizyn werde ich irgendwann zurückkehren, an einem schönen Sommerabend.

Halbwertszeiten
    Luisa Reys erster Fall
     
    40
     
    Das tosende, schwarze Meer strömt in den VW. Der Kälteschock bringt Luisa zur Besinnung. Das Heck ist im 45-Grad-Winkel aufs Wasser geschlagen, sodass der Sitz ihre Wirbelsäule geschützt hat, aber jetzt schaukelt der Wagen auf dem Kopf, und Luisa hängt, eingeschnürt von ihrem Sicherheitsgurt, nur wenige Zentimeter vor der Windschutzscheibe. Raus hier oder du stirbst. Luisa gerät in Panik, bekommt Wasser in die Lunge und kämpft sich hustend in ein Luftloch vor. Mach den Gurt auf . Sie windet und streckt sich nach dem Verschluss. Drück auf den Knopf . Der Gurt löst sich nicht. Das Auto sinkt mit einem halben Überschlag weiter nach unten, und eine gewaltige, tintenfischförmige Luftblase fliegt mit einem reißenden Geräusch davon. Die nassen Sachen kleben schwer an ihrem Körper. Luisa hämmert verzweifelt auf den Knopf, der Gurt geht auf und schwebt davon. Mehr Luft . Unter der schwarzen Windschutzscheibe findet sie ein Luftloch. Die Wassermassen drücken die Tür zu. Kurbel das Fenster runter. Es schiebt sich Zentimeter für Zentimeter nach unten, aber in der Mitte klemmt es, genau da, wo es immer klemmt. Luisa windet sich, zwängt den Kopf, die Schultern und den Oberkörper durch die Öffnung. Zwei Worte schießen ihr in den Sinn.
    Sixsmith! Bericht!
    Sie hangelt sich wieder in das sinkende Fahrzeug. Ich kann nichts sehen. Der Müllbeutel. Unter dem Sitz. Sie macht sich in dem engen Raum ganz klein … Da. Sie zieht den Beutel hervor, der so schwer ist wie ein Sack Steine. Dann schlängelt sie sich mit den Füßen voran durch das Fenster, aber der Ordner ist zu dick. Der sinkende VW zieht Luisa hinab in die Tiefe. Ihre Lunge schmerzt. Das voll gesogene Papier hat sein Gewicht vervierfacht. Der Müllbeutel ist durch das Fenster, aber während sie mit den Füßen tritt und kämpft, merkt sie, wie der Beutel leichter wird. Hunderte von Seiten lösen sich aus dem Ordner, wirbeln um sie herum wie die Spielkarten um Alice oder treiben im Meer davon. Sie befreit sich von ihren Schuhen. Ihre Lunge schreit, flucht, bettelt. Jeder Pulsschlag dröhnt in ihren Ohren. Wo ist oben? Das Wasser ist zu trübe. Oben heißt weg vom Auto. Nur noch wenige Augenblicke, und ihre Lunge wird kollabieren. Wo ist das Auto? Luisa begreift, dass sie den Sixsmith-Bericht mit ihrem Leben bezahlt.
     
    41
     
    Isaac Sachs blickt hinunter auf den strahlenden