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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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in Strömen, Motoren heulten auf, überall wurde geböllert, und die Menschen nahmen sich den Tag frei, auch wenn ihr Chef es nicht erlaubte. Gegen neun Uhr wurden mein Partner und ich nach Little Korea gerufen, ein Unfall mit Fahrerflucht. Normalerweise ließen wir dieses Viertel am anderen Ende der Stadt links liegen, aber das Opfer war ein junger Weißer, und es würde Angehörige und Ermittlungen geben. Unterwegs erreichte uns über Funk ein Code 8 Ihres Vaters, der alle verfügbaren Streifenwagen zum Silvaplana Wharf beorderte. Tja, die Faustregel hieß, schnüffel nicht in diesem Teil der Docks herum, jedenfalls nicht, wenn du Karriere machen willst. Die Mafia hatte dort unter dem Schutz der Stadtverwaltung ihre Lager. Dazu kam», Napier beschließt, nichts zu beschönigen, «dass Lester Rey als nervtötend sittenstrenger Cop vom 10. Revier verschrien war. Aber zwei Polizisten waren draufgegangen, und damit sah die Sache völlig anders aus. Es hätten unsere Kumpels sein können, die da auf dem Asphalt verbluteten. Also rasten wir los und kamen direkt hinter Brozman und Harkins von unserem Revier zum Kai. Zuerst war nichts zu sehen. Keine Spur von Lester Rey, keine Spur von einem Streifenwagen. Die Laternen waren aus. Wir fuhren zwischen hoch aufgetürmten Frachtcontainern durch, bogen um eine Ecke und kamen zu einem Platz, wo ein paar Männer einen Armeetransporter beluden. Ich glaubte schon, wir hätten uns verfahren, als mir auffiel, wie sehr die Männer sich ins Zeug legten. Dann hagelten Kugeln auf uns ein. Brozman und Harkins kriegen die erste Welle ab – quietschende Bremsen, fliegende Glassplitter. Wir schlittern in sie hinein, mein Partner und ich rollen uns aus dem Wagen und verschanzen uns hinter einem Stapel Stahlrohre. Brozmans Hupe geht, hört nicht wieder auf, und beide rühren sich nicht. Die Kugeln fliegen uns um die Ohren, und ich scheiß mir vor Angst in die Hosen – ich war Polizist geworden, weil ich nicht in den Krieg wollte. Mein Partner schießt zurück. Ich tu’s ihm nach, aber unsere Trefferchancen stehen quasi bei null. Wenn ich ehrlich bin, war ich froh, als der Transporter davonrumpelte. Dämlich wie ich war, gab ich sofort meine Deckung auf, weil ich dachte, ich könnte vielleicht das Nummernschild erkennen.» Napiers Zunge tut vom vielen Reden weh. «Und dann ging es Schlag auf Schlag. Ein Mann stürmt schreiend über den Platz auf mich zu. Ich schieße auf ihn. Die Kugel geht daneben – der glücklichste Fehlschuss meines und auch Ihres Lebens, Luisa, denn wenn ich Ihren Vater erschossen hätte, wären Sie jetzt nicht hier. Lester Rey zeigt im Vorbeilaufen hinter mich und tritt einen Gegenstand weg, der von der Ladefläche des Transporters geworfen wurde und auf mich zurollt. Ich sehe ein gleißendes Licht, mir wird ganz heiß, in meinem Schädel macht es peng!, und ein stechender Schmerz schießt mir in den Hintern. Dann fiel ich um und blieb halb ohnmächtig liegen, bis die Sanitäter mich in den Krankenwagen hievten.»
    Luisa hört ihm schweigend zu.
    «Ich hatte Glück. Ein Granatsplitter hatte sich zweimal durch jede Gesäßhälfte gebohrt. Sonst war ich unverletzt. Der Arzt meinte, er hätte noch nie zuvor ein Projektil gesehen, das vier Löcher verursacht hat. Ihr Vater war natürlich nicht so glimpflich davongekommen. Lester ähnelte einem Schweizer Käse. Am Tag vor meiner Entlassung wurde er operiert, aber sein Auge war nicht mehr zu retten. Doch er versank nicht in Selbstmitleid; wir gaben uns zum Abschied die Hand, und ich ging, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Man kann einen anderen Mann nicht schlimmer beschämen, als sein Leben zu retten. Auch Lester wusste das. Aber seitdem ist kein Tag, keine Stunde vergangen, in der ich nicht an ihn gedacht habe. Jedes Mal, wenn ich mich hinsetze.»
    Luisa schweigt einen Augenblick. «Warum haben Sie mir das nicht auf Swannekke Island erzählt?»
    Napier kratzt sich am Ohr. «Ich hatte Angst, Sie würden die Verbindung benutzen, um aus mir herauszuquetschen …»
    «Was wirklich mit Rufus Sixsmith geschehen ist?»
    Napier weicht der Frage aus. «Ich weiß, wie Reporter arbeiten.»
    « Sie wollen meine Berufsehre attackieren?»
    Sie redet nur so dahin – sie kann unmöglich wissen, was im Haus von Margo Roker passiert ist. «Wenn Sie weiter nach Rufus Sixsmiths Bericht suchen», Napier zögert, es im Beisein des Jungen auszusprechen, «wird man Sie umbringen. So einfach ist das. Ich habe nichts damit zu tun!

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