Der Wolkenatlas (German Edition)
nicht. Es bleibt ein erträgliches Restrisiko. Ich bin in solchen Sachen noch keine Expertin.»
Milton vergräbt die Daumen in den Hosentaschen. «Ich fahre Sie nach Buenas Yerbas zurück. Dauert bloß ’ne Minute, ich rufe nur schnell einen Freund an, damit er seinen Pick-up vorbeibringt.»
«Ein feiner Kerl», bemerkt Luisa, als er gegangen ist.
«Für Milton würde ich meine Hand ins Feuer legen», erwidert Hester.
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Milton eilt hinüber zu dem schmuddeligen Kramladen, der den Campingplatz, den Trailerpark, das Strandpublikum, die Autofahrer nach Swannekke und die abgeschieden gelegenen Häuser der Umgebung versorgt. Im Radio hinter dem Tresen spielt ein Song von den Eagles. Milton steckt zehn Cent in das Telefon, überzeugt sich, dass ihn niemand belauscht, und wählt aus dem Gedächtnis eine Nummer. Aus den Kühltürmen auf Swannekke steigt Wasserdampf auf wie blumenkohlförmige Flaschengeister. Strommasten führen nördlich nach Buenas Yerbas, südlich nach Los Angeles. Komisch , denkt Milton. Elektrizität, Zeit, Schwerkraft, Liebe. Alles, was richtig Power hat, ist unsichtbar. Am anderen Ende der Leitung wird der Hörer abgenommen. «Ja?»
«Napier? Ich bin’s. Hören Sie, es geht um eine Frau namens Luisa REY. Tja, und wenn nicht? Wenn sie nach wie vor rumläuft, Eis am Stiel lutscht und ihre Stromrechnung bezahlt? Wäre es Ihnen etwas wert, zu erfahren, wo sie steckt? Ja? Wie viel? Nein, Sie nennen den Preis. Okay, das Doppelte … nein? War nett, mit Ihnen zu sprechen, Napier, aber ich muss Schluss …» Milton lächelt spöttisch. «… Auf das übliche Konto, innerhalb eines Werktages, wenn ich bitten darf. Ja. Was? Nein, sonst hat sie keiner gesehen, nur die irre Van Zandt. Nein. Sie hat davon gesprochen, aber er liegt auf dem Grund des tiefen blauen Ozeans. Ziemlich sicher. Fischfutter. Natürlich nicht, mein Bericht ist exklusiv für Sie bestimmt … Mhm, ich bringe sie in ihre Wohnung, dann fährt sie zu ihrer Mutter … Okay, erst in einer Stunde. Das übliche Konto. Ein Werktag.»
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Als Luisa die Wohnungstür aufschließt, schlagen ihr der Lärm des sonntäglichen Baseballspiels und der Geruch nach Popcorn entgegen. «Wann habe ich dir erlaubt, Öl heiß zu machen?», ruft sie Javier zu. «Warum sind die Jalousien unten?»
Javier hüpft ihr grinsend entgegen. «Hi, Luisa! Dein Onkel Joe hat das Popcorn gemacht. Wir gucken gerade die Giants gegen die Dodgers. Warum hast du diese Omaklamotten an?»
Luisas Magen zieht sich zusammen. «Komm her. Wo ist er?»
Javier kichert. «Auf dem Sofa. Was ist denn los?»
«Komm! Deine Mutter will dich sehen.»
«Die macht Überstunden im Hotel.»
«Ich war nicht auf der Brücke, Luisa, ich bin das nicht gewesen!» Napier tritt mit ausgestreckten Händen hinter den Jungen, als wollte er ein verängstigtes Tier beruhigen. «Hören Sie …»
Luisas Stimme zittert. «Javi! Hinter mich! Sofort!»
Napier erhebt die Stimme. «Hören Sie mir bitte zu …»
Ja, ich spreche mit meinem Mörder. «Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen zuhören?»
«Ich bin der Einzige bei Seaboard, der sich nicht Ihren Tod wünscht!» Seine Gelassenheit lässt ihn im Stich. «Ich wollte Sie auf dem Parkplatz warnen! Überlegen Sie doch! Würden wir uns jetzt unterhalten, wenn ich der Killer wäre? Vor Zeugen? Bleiben Sie, Herrgott nochmal! Sie sind in Gefahr! Ihre Wohnung könnte immer noch überwacht werden. Darum sind die Jalousien unten.»
Javier reißt entsetzt die Augen auf. Luisa nimmt ihn in den Arm, aber sie weiß nicht, wie sie sich und den Jungen aus dieser gefährlichen Situation befreien soll. «Warum sind Sie hier?»
Napier fängt sich wieder, aber er ist müde und zutiefst besorgt. «Ich kannte Ihren Vater, als er noch Polizist war. Der Tag der Siegesfeier am Silvaplana Wharf. Kommen Sie rein, Luisa. Setzen Sie sich.»
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Joe Napier hat damit gerechnet, dass der Nachbarsjunge Luisa so sehr in Anspruch nehmen würde, dass sie ihm zuhören muss. Sein Plan ist aufgegangen, aber er ist alles andere als stolz darauf. Napier, eher stiller Beobachter als großer Redner, wählt seine Worte mit Bedacht. «1945 war ich schon sechs Jahre im Spinoza-Revier. Keine Auszeichnungen, keine Verweise. Ein ganz normaler Cop, der seine Weste sauber hielt und mit einem ganz normalen Mädchen aus einem Schreibbüro ging. Am vierzehnten August wurde im Radio die Kapitulation der Japse gemeldet, und ganz Buenas Yerbas tanzte Hula. Der Alkohol floss
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