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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Vertrautes.
     
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    Die silberne Kaminuhr in Judith Reys Haus in Ewingsville schlägt eins. Bill Smoke wird von einer reichen Gattin mit Beschlag belegt. «Dieses Haus weckt jedes Mal den Dämon der Begierde in mir», vertraut ihm die mit Juwelen behängte Fünfzigerin an, «es ist der Nachbau eines Frank Lloyd Wright. Das Original steht irgendwo am Stadtrand von Salem, glaube ich.» Sie rückt ihm eine Spur zu dicht auf die Pelle. Und du siehst aus wie eine Hexe vom Stadtrand von Salem, der bei Tiffany ’ne Sicherung durchgebrannt ist, denkt Bill Smoke. «Ach, was Sie nicht sagen?»
    Die hispanischen Dienstmädchen vom Partyservice tragen Tabletts mit Kanapees zwischen den ausschließlich weißen Gästen hindurch. In den zu Schwänen gefalteten Leinenservietten stecken Tischkarten. «Die weißblättrige Eiche im Vordergarten stand bestimmt schon hier, als die spanische Mission erbaut wurde», sagt die Gattin, «meinen Sie nicht auch?»
    «Mit Sicherheit. Eichen werden sechshundert Jahre alt. Zweihundert wachsen sie, zweihundert leben sie, zweihundert sterben sie.»
    Er sieht, wie Luisa den luxuriösen Raum betritt und sich von ihrem Stiefvater auf beide Wangen küssen lässt. Was will ich von dir, Luisa Rey? Eine Frau in Luisas Alter fällt ihr um den Hals. «Luisa! Das ist mindestens drei Jahre her!» Aus der Nähe bekommt der Charme des Gastes etwas Neugieriges und Bösartiges. «Stimmt es, dass du immer noch nicht verheiratet bist?»
    «Allerdings», antwortet Luisa knapp. «Du etwa?»
    Smoke spürt, dass sie sich von ihm beobachtet fühlt, und wendet sich nickend wieder der Gattin zu, die gerade berichtet, dass es nicht einmal eine Stunde von hier Mammutbäume gibt, die schon zu Zeiten König Nebukadnezars alt waren. Judith Rey steigt auf einen Schemel, der eigens zu diesem Zweck bereitgestellt wurde, und schlägt mit einem Silberlöffel gegen eine Flasche Roséchampagner, bis alle Gespräche verstummt sind. «Meine Damen und Herren, liebes Jungvolk», deklamiert sie, «das Essen ist angerichtet! Doch bevor wir uns zu Tisch begeben, möchte ich ein paar Worte über die wunderbare Arbeit der Buenas-Yerbas-Krebshilfe und die Verwendung des Geldes sagen, das Sie heute so großzügig gespendet haben.»
    Zum großen Vergnügen zweier Kinder zaubert Bill Smoke einen glänzenden Krügerrand aus dem Nichts. Von dir, Luisa, wünsche ich mir einen intimen Mord. Einen Moment lang staunt er über die Kräfte in unserem Inneren, die nicht wir selbst sind.
     
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    Die Dienstmädchen haben das Dessert abgeräumt, es duftet nach frischem Kaffee, und im Esszimmer herrscht die typisch schläfrige Atmosphäre nach einem allzu üppigen Sonntagsmahl. Die ältesten Gäste suchen sich eine ruhige Ecke für ein Nickerchen. Luisas Stiefvater schart ein paar Altersgenossen um sich, um ihnen seine Sammlung mit 50er-Jahre-Autos zu zeigen, die Ehefrauen und Mütter beharken sich in taktischem Geplänkel, die Kinder spielen draußen in der Sonne oder zanken sich am Pool. Die Henderson-Drillinge spucken am Tisch der Unverheirateten große Töne. Alle drei haben blaue Augen und riechen nach Geld, und Luisa kann sie nicht auseinander halten. «Was ich tun würde, wenn ich Präsident wäre?», fragt der eine. «Als Erstes würde ich versuchen, den Kalten Krieg zu gewinnen , anstatt mich damit zu begnügen, ihn nicht zu verlieren.»
    Der zweite Drilling schaltet sich ein. «Ich würde nicht länger vor den Arabern zu Kreuze riechen, nur weil deren Vorfahren ihre Kamele zufällig auf dem richtigen Flecken Wüste abgestellt haben …»
    «… oder vor den roten Schlitzaugen. Ich würde – und ich scheue mich nicht, es auszusprechen – unserem Land zu seiner rechtmäßigen – wirtschaftlichen – Vormachtsstellung verhelfen. Wenn das nämlich nicht geschieht …»
    «… kommen uns die Japse zuvor. Die Zukunft gehört den Konzernen. Die Wirtschaft muss das Land regieren und eine echte Leistungsgesellschaft etablieren.»
    «Die nicht vom Wohlfahrtsstaat, den Gewerkschaften oder Sonderrechten für farbige, amputierte, obdachlose Transvestiten mit Spinnenphobie lahm gelegt wird …»
    «Eine businessorientierte Leistungsgesellschaft. Die sich ohne Scham eingesteht, dass Reichtum Macht anzieht …»
    «… und ihre Leistungsträger – also uns – belohnt. Wenn ein Mann nach Macht strebt, stelle ich mir eine simple Frage: ‹Denkt er wie ein Geschäftsmann?›»
    Luisa knüllt ihre Serviette zusammen. «Und ich stelle mir drei

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