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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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ekelhaft rot, ekelhaft glänzend. Die Takelage klingt im Wind wie verstimmte Glocken.
    Der Killer schließt die Kajüttür hinter sich. «Legen Sie den Bericht auf den Tisch, Luisa.» Seine Stimme klingt beinahe sanft. «Ich will nicht, dass Blut dran klebt.» Sie gehorcht. Sein Gesicht verbirgt sich im Dunkel. «Und jetzt finden Sie Frieden bei Ihrem Schöpfer.»
    Luisa hält sich am Tisch fest. «Sie sind Bill Smoke. Sie haben Sixsmith ermordet.»
    Die Dunkelheit antwortet: «Ihr aller Tod ist das Werk höherer Mächte. Ich stelle nur die Kugeln zur Verfügung.»
    Konzentrier dich. «Sie sind uns von der Bank in die U-Bahn und zum Museum gefolgt …»
    «Macht der Tod Sie immer so geschwätzig?»
    Luisas Stimme zittert. «Was meinen Sie mit immer?»
     
    68
     
    Joe Napier treibt in einem Strom der Stille.
    Der Geist Bill Smokes schwebt dunkel in sein Blickfeld.
    Ein großer Teil von ihm ist schon fort.
    Worte durchbrechen die Stille. Er wird sie töten. Die .38er in deiner Tasche.
    Ich habe meine Schuldigkeit getan. Herrgott nochmal, ich sterbe.
    Hey. Erzähl Lester Rey mal was von Schuldigkeit und Sterben.
    Napiers rechte Hand nähert sich vorsichtig seiner Gürtelschnalle. Er weiß nicht, was er ist, ein Neugeborenes in der Wiege oder ein Mann auf dem Sterbebett. Nächte vergehen, nein, ganze Leben. Mehrmals will Napier einfach gehen, aber sein Zeigefinger hat einen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Ein Pistolengriff legt sich in seine Hand. Sein Finger schiebt sich in einen stählernen Ring, und plötzlich tritt sein Ziel klar und deutlich hervor. Der Abzug, ja. Zieh sie raus. Ganz langsam …
    Richte die Pistole auf ihn. Bill Smoke ist nur wenige Meter entfernt.
    Der Abzug leistet seinem Zeigefinger Widerstand – dann ertönt ein ohrenbetäubender Knall. Bill Smoke taumelt nach hinten und fuchtelt mit den Armen wie eine Marionette.
    Im viertletzten Moment seines Lebens feuert Napier eine zweite Kugel in die schemenhafte Marionette im Sternenlicht. Das Wort «Silvaplana» drängt sich ihm auf.
    Im drittletzten Moment rutscht Bill Smokes Körper an der Kajüttür hinunter.
    Im zweitletzten springt eine Quarzuhr von 21   :   57 auf 21   :   58.
    Napiers Augen schließen sich, zarte Sonnenstrahlen fallen durch uralte Eichen und tanzen auf einem verlorenen Fluss. Sieh nur, Joe, Reiher.
     
    69
     
    In Margo Rokers Zimmer im Swannekke County Hospital sieht Hester Van Zandt auf die Armbanduhr. 21   :   57. Die Besuchszeit ist seit acht Uhr vorbei. «Noch eins zum Abschluss, Margo?» Die Besucherin wirft einen Blick auf ihre bewusstlose Freundin, dann blättert sie in ihrer Anthologie der amerikanischen Lyrik . «Ein bisschen Emerson? Ah, hier. Erinnerst du dich? Du hast es mir mal vorgelesen.»
Dass er würge, glaubt der rote Tod
Und der Gewürgte meint, er sei gewürgt,
sie kennen nicht mein vornehmes Gebot,
das Geben, Nehmen, Wiederkehren birgt.
 
Fern und Vergessen ist für mich doch nah,
Schatten und Sonnenschein dasselbe Licht,
ich kenne Götter, die man schwinden sah,
Schmach oder Ruhm, ich unterscheid es nicht.
 
Mich zu missachten, ist ein schlechter Streich,
lässt man mich fliegen, bin ich selbst die Schwingen,
Zweifler und Zweifel bin ich stets zugleich,
ich bin die Hymne, die Brahmanen singen.
 
Nach meinem Reich und nach der heil’gen Sieben
Die starken Götter …
    «Margo? Margo? Margo!» Margo Rokers Lider flattern wie in der Traumphase. Ein Stöhnen dringt aus ihrer Kehle. Sie schnappt nach Luft, reißt die Augen auf und blickt ängstlich und verstört auf die Schläuche, die aus ihrer Nase ragen. Auch Hester Van Zandt ist ganz außer sich, allerdings vor Hoffnung. «Margo! Kannst du mich hören? Margo!»
    Die Augen der Patientin richten sich auf ihre alte Freundin, und ihr Kopf sinkt zurück auf das Kissen. «Natürlich kann ich dich hören, Hester, du brüllst mir ja ins Ohr.»
     
    70
     
    Luisa Rey sitzt im lärmenden, kühlen Snow White Diner und liest den Western Messenger vom 1. Oktober.
     
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