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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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die Tür zu öffnen.
    «Geben Sie auf, Napier!», schreit jemand. «Hinter Ihnen sind wir nicht her!»
    Napier feuert aus nächster Nähe auf das Schloss.
    Die Tür bleibt zu. Napier jagt drei weitere Kugeln in das Schloss: Luisa zuckt bei jedem Knall zusammen. Der vierte Schuss ist nur ein leeres Klicken. Napier tritt die Tür ein.
    Ein unterirdischer Sweatshop mit fünfhundert klappernden Nähmaschinen. Die Luft ist heiß und stickig, herabhängende Stofffetzen verleihen den nackten Glühbirnen über den Arbeiterinnen einen Heiligenschein. Luisa und Napier gehen tief gebückt den äußeren Gang entlang. Schlaffe Donald Ducks und gekreuzigte Scooby-Doos werden gefüllt und vernäht, Stück für Stück, Reihe für Reihe, Palette für Palette. Der Blick der Frauen – ausschließlich Latinas und Chinesinnen – ist starr auf die Stichplatten gerichtet, sodass Luisa und Napier kaum Aufsehen erregen.
    Aber wie kommen wir hier wieder raus?
    Napier stößt fast mit der Mexikanerin aus dem provisorischen Büro zusammen. Sie macht ihnen Zeichen, ihr in einen halb verstellten, unbeleuchteten Seitengang zu folgen. Napier dreht sich zu Luisa um und schreit gegen das metallische Getöse an. Sein Gesicht sagt: Vertrauen wir ihr?
    Luisas Gesicht antwortet: Eine bessere Idee? Sie folgen der Frau vorbei an Stoffballen, Drahtrollen, aufgerissenen Kartons mit Teddyaugen, Nähmaschinenkörpern und Ersatzteilen. Der Gang biegt nach rechts und endet vor einer Metalltür. Durch ein verrußtes Gitter dringt Tageslicht. Die Mexikanerin hantiert mit ihrem Schlüsselbund. Hier unten ist nicht 1975 , denkt Luisa, sondern 1875 . Der erste Schlüssel passt nicht. Der zweite passt, lässt sich aber nicht drehen. Dreißig Sekunden in der Fabrikhalle haben ausgereicht, um Luisas Gehör zu beeinträchtigen.
    Fünf Meter hinter ihnen Kriegsgeschrei: «Hände hoch!» Luisa fährt herum. « Flossen hoch, hab ich gesagt! » Luisas Arme gehorchen. Der Killer richtet seine Pistole auf Napier. «Umdrehen, Napier! Langsam! Waffe fallen lassen!»
    Die Señora kreischt: «Nicht erschießen! Nicht erschießen, Señor! Sie mich zwingen, ich zeige Tür! Sie gesagt, sie töten …»
    «Halt’s Maul, illegale Mexikanerschlampe! Los, verpiss dich! Weg da!»
    Die Frau schiebt sich, den Rücken dicht an die Wand gedrückt, langsam an ihm vorbei. Sie schreit: «¡No dispares! ¡No dispares! ¡No quiero morir!»
    Napier brüllt über den Fabriklärm hinweg: «Immer sachte, Bisco, wie viel bezahlt man Ihnen?»
    «Vergessen Sie’s, Napier. Ihre letzten Worte.»
    «Ich kann Sie nicht verstehen! Was haben Sie gesagt?»
    «WAS – SIND – IHRE – LETZTEN – WORTE?»
    «Letzte Worte? Wer sind Sie? Dirty Harry?»
    Biscos Mundwinkel zucken. «Ich habe ein ganzes Buch mit letzten Worten, und das waren Ihre. Sie?» Er sieht Luisa an, richtet die Waffe aber weiter auf Napier.
    Ein Schuss bohrt sich durch den Lärm, und Luisa kneift die Augen zusammen. Etwas Hartes stößt an ihren Zeh. Sie zwingt sich, die Augen zu öffnen. Es ist eine Pistole, die über den Boden geschlittert ist. Biscos Gesicht ist zu einer gequälten Grimasse verzerrt. Der Schraubenschlüssel der Señora blitzt auf und landet dumpf auf dem Unterkiefer des Killers. Es folgen mindestens zehn mit äußerster Heftigkeit ausgeführte Schläge, die von den Worten «¡Yo! ¡Amaba! ¡A! ¡Ese! ¡Perro! ¡Hijo! ¡De! ¡Puta!» begleitet werden. Luisa zuckt bei jedem Schlag zusammen.
    Sie sieht zu Napier. Er ist wie vom Donner gerührt, aber unverletzt.
    Die Señora wischt sich den Mund ab und beugt sich über das zu Brei geschlagene Gesicht des regungslosen Bisco. «Und nenn mich nie wieder ‹illegale Mexikanerschlampe›!» Sie steigt über den blutüberströmten Schädel und schließt die Tür auf.
    «Richten Sie den beiden anderen aus, dass ich das gewesen bin», sagt Napier und nimmt Biscos Pistole an sich.
    Die Señora wendet sich an Luisa. «Quítatelo de encima, cariño. Anda con gentuza y además ¡por e amor de Dios, es tan viejo que podría ser tu padre!»
     
    65
     
    Napier sitzt in der mit Graffiti übersäten U-Bahn und betrachtet stumm Lester Reys Tochter. Sie ist zittrig und benommen, ihre Haare sind zerzaust, die Kleider noch feucht von der Sprinkleranlage. «Wie haben Sie mich gefunden?», fragt sie nach einer Weile.
    «Der Fettsack aus Ihrer Redaktion. Nosboomer oder so.»
    «Nussbaum.»
    «Genau der. Hat mich reichlich Überredung gekostet.»
    Schweigen von der Einfahrt in den Tunnel am

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