Der Wolkenatlas (German Edition)
Arbeiten durchgegangen.»
«Verteidigung? Nicht Energie?»
«Nein, Verteidigung. Ein Nebenprodukt des HYDRA-Zero-Reaktors ist waffentaugliches Uran. Beste Qualität, in rauen Mengen.» Megan hält inne, damit Luisa Rey die neuen Informationen verarbeiten kann. «Was brauchen Sie?»
«Seine Arbeit. Nur mit dem Bericht kann ich erreichen, dass Seaboard in der Öffentlichkeit und vor Gericht abstürzt. Und nebenbei meine Haut retten.»
Einer Fremden vertrauen oder aufstehen und gehen?
Eine Horde Schulkinder schart sich in Zweierreihen um das Porträt der alten Frau. Während der Museumsleiter kurz das Bild erklärt, raunt Megan: «Rufus bewahrte seine wissenschaftlichen Unterlagen, Daten, Aufzeichnungen, Entwürfe et cetera, die er noch verwenden wollte, auf seiner Yacht, der Starfish, auf. Die Beerdigung findet nicht vor nächster Woche statt, und die Testamentseröffnung ist erst hinterher, das Versteck müsste also noch unberührt sein. Ich gehe jede Wette ein, dass er eine Kopie des Berichts an Bord hatte. Vielleicht haben die Leute von Seaboard das Boot schon gefilzt, aber Rufus legte immer großen Wert darauf, die Starfish nicht bei der Arbeit zu erwähnen …»
«Wo ist die Starfish zurzeit festgemacht?»
67
KAP YERBAS MARINA ROYALE
STOLZER HAFEN DER PROPHETESS –
BESTERHALTENER SCHONER DER WELT!
Napier parkt den gemieteten Ford neben dem Clubhaus, einem schindelgedeckten ehemaligen Bootshaus. Durch die hellen Fenster sieht man eine einladende Bar, Schiffsfahnen rascheln steif im Abendwind.
Aus den Dünen dringt Gelächter und Hundegebell herüber, als Luisa und Napier den Garten durchqueren und die Treppe hinunter zum imposanten Yachthafen gehen. Zwischen den schnittigen Glasfaserbooten ragt ein hölzerner Dreimaster auf, dessen Segel sich gegen die Abenddämmerung abheben. Am Anleger und auf den Yachten sind vereinzelt Menschen zu sehen.
«Die Starfish liegt vom Clubhaus aus am letzten Steg», Luisa wirft einen Blick auf Megan Sixsmiths Karte, «noch hinter der Prophetess .»
Der Schoner aus dem neunzehnten Jahrhundert ist tatsächlich herrlich restauriert. Das Schiff strahlt eine eigentümliche Ernsthaftigkeit aus, die Luisa trotz ihrer Mission in ihren Bann zieht. Sie bleibt fasziniert stehen, betrachtet die Takelage und lauscht dem Knarren der hölzernen Gebeine.
«Was ist?», flüstert Napier. Es ist schon zu dunkel, um ihren Gesichtsausdruck richtig zu deuten.
Ja, was ist? Luisas Muttermal pocht. Sie will diesen Moment mit beiden Händen festhalten, aber er schießt wie ein Pfeil in Vergangenheit und Zukunft. «Nichts.»
«Ist nicht schlimm, wenn Ihnen mulmig ist. Mir geht’s genauso.»
«Ja.»
«Los. Gleich sind wir da.»
Die Starfish liegt dort, wo Megan sie eingezeichnet hat. Sie gehen an Bord. Napier steckt eine Büroklammer in das Kajütschloss und schiebt einen Eisstiel in den Türspalt. Luisa hält nach Beobachtern Ausschau. «Wetten, dass Sie das nicht in der Armee gelernt haben?»
«Wette verloren. Fassadenkletterer geben erfinderische Soldaten ab, und das Einberufungskomitee war nicht wählerisch …» Es macht klick. «Geschafft.» In der aufgeräumten Kajüte steht kein einziges Buch. Eine eingebaute Quarzuhr springt von 21 : 55 auf 21 : 56. Der dünne Strahl von Napiers Taschenlampe verweilt auf einem Navigationstisch, der passgenau auf einem kleinen Aktenschrank steht. «Wie wär’s damit?»
Luisa zieht eine Schublade auf. «Das ist es. Leuchten Sie hierher.» Ein Haufen Hefter und Ordner. Einer davon, vanillegelb, springt ihr ins Auge. DER HYDRA-ZERO-REAKTOR – EINE BETRIEBSFÄHIGKEITSANALYSE – PROJEKTLEITUNG: DR. RUFUS SIXSMITH. «Treffer. Das ist er. Joe? Alles in Ordnung?»
«Ja … Wurde auch langsam Zeit, dass mal was klappt wie am Schnürchen.»
Joe Napier kann also doch lächeln.
In der Kajüttür bewegt sich etwas; ein Mann verdeckt die Sterne. Napier sieht die Angst in Luisas Gesicht und wirbelt herum. Im Schein der Taschenlampe erkennt Luisa, wie die Hand des Killers zweimal zuckt, aber es ist kein Schuss zu hören. Ladehemmung?
Joe Napier sackt mit einem schluckaufähnlichen Geräusch zusammen und schlägt mit dem Kopf auf den Stahlfuß des Navigationstischs.
Er bleibt regungslos liegen.
Luisa nimmt sich nur noch wie durch einen narkotisierenden Nebel wahr. Der leichte Seegang bringt Napiers Taschenlampe ins Rollen, und ihr Strahl richtet sich auf seinen zerfetzten Leib. Sein Lebenssaft verteilt sich ekelhaft schnell,
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