Der Wolkenatlas (German Edition)
Reunion Square bis zur 17th Avenue. Luisa kratzt an einem Loch in ihrer Jeans. «Das heißt wohl, Sie arbeiten nicht mehr bei Seaboard.»
«Ich wurde gestern in die Wüste geschickt.»
«Gefeuert?»
«Nein. Vorruhestand. Doch. In die Wüste geschickt.»
«Und heute Morgen sind Sie aus der Wüste zurückgekehrt?»
«Könnte man so sagen.»
Von der 17th Avenue bis zum McKnight Park herrscht wieder Schweigen.
«Es kommt mir vor», Luisa zögert, «als hätte ich vorhin – nein, als hätten Sie – dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen. Als hätte Buenas Yerbas für heute meinen Tod beschlossen. Aber es gibt mich noch.»
Napier denkt darüber nach. «Nein. Der Stadt ist das egal. Sagen Sie lieber, Ihr Vater hat Ihnen das Leben gerettet, als er vor dreißig Jahren die Handgranate wegtrat, die auf mich zurollte.» Der Waggon ächzt und zittert. «Wir müssen vorher noch an einem Waffengeschäft vorbei. Ungeladene Pistolen machen mich nervös.»
Die U-Bahn fährt aus dem Tunnel ins Sonnenlicht.
Luisa blinzelt. «Wo fahren wir hin?»
«Wir sind verabredet.» Napier sieht auf die Uhr. «Sie ist extra eingeflogen.»
Luisa reibt sich die geröteten Augen. «Kann diese Person uns eine Kopie von Sixsmiths Bericht besorgen? Das scheint mir im Moment das Einzige zu sein, was zählt.»
«Das kann ich noch nicht sagen.»
66
Megan Sixsmith sitzt auf einer Bank im Museum für Moderne Kunst von Buenas Yerbas und starrt gebannt auf das riesige Porträt einer alten Dame mit bärenhaftem Gesicht, das aus verschlungenen grauen und schwarzen Linien vor leerem Hintergrund besteht. Als einziges gegenständliches Gemälde in einem Raum mit Pollocks, de Koonings und Mirós löst es leise Bestürzung aus. «Betrachte deine Zukunft», sagt sie , denkt Megan. «Auch du wirst eines Tages so aussehen.» Die Zeit hat ihre Haut mit einem Netz aus Falten überzogen. Die Muskeln sind teils erschlafft, teils angespannt, die Lider hängen. Ihre Perlen sind sehr wahrscheinlich von minderer Qualität, und ein turbulenter Nachmittag mit den Enkelkindern hat ihre Frisur zerzaust. Aber sie sieht Dinge, die ich nicht sehe.
Eine Frau in ihrem Alter setzt sich neben sie. Sie könnte eine Dusche und ein paar frische Sachen gebrauchen. «Megan Sixsmith?»
Megan blickt zur Seite. «Luisa Rey?»
Sie deutet mit dem Kopf auf das Porträt. «Ich habe sie immer gemocht. Mein Vater kannte sie, die echte Frau, meine ich. Eine Holocaust-Überlebende, die es nach BY verschlagen hatte. Sie besaß eine Pension in Little Lisbon. Der Künstler hat bei ihr gewohnt, bevor er berühmt wurde.»
Mut wächst überall , denkt Megan Sixsmith, genau wie Unkraut .
«Joe Napier sagte, Sie wären erst heute aus Honolulu gekommen.»
«Ist er hier?»
«Hinter mir, der Mann in dem Jeanshemd, der so tut, als betrachte er den Warhol. Er bewacht uns. Leider ist sein übertriebenes Misstrauen mehr als berechtigt.»
«Ja. Ich muss wissen, ob Sie die sind, für die Sie sich ausgeben.»
«Das höre ich gern. Irgendwelche Vorschläge?»
«Welcher Hitchcock war der Lieblingsfilm meines Onkels?»
Die Frau, die behauptet, Luisa Rey zu sein, denkt einen Augenblick nach und lächelt. «Wir haben uns im Fahrstuhl über Hitchcock unterhalten – wahrscheinlich hat er Ihnen davon geschrieben –, aber einen Lieblingsfilm nannte er, soweit ich mich erinnere, nicht. Er bewunderte die stumme Szene in Vertigo , wenn James Stewart vor der Kulisse San Franciscos der geheimnisvollen Frau zum Ufer folgt. Charade gefiel ihm auch – ich weiß, der ist nicht von Hitchcock, aber es amüsierte ihn, dass Sie Audrey Hepburn einen Dummbatz nannten.»
Megan lehnt sich zurück. «Ja, mein Onkel erwähnte Sie auf einer Karte, die er mir aus dem Flughafenhotel schrieb. Er schien aufgeregt und beunruhigt, er schrieb Sätze wie ‹Falls mir etwas zustößt› – aber er klang nicht nach Selbstmord. Rufus hätte das niemals getan, auch wenn die Polizei es behauptet. Das weiß ich genau.» Hör auf zu zittern und frag sie, Herrgott nochmal. «Miss Rey – glauben Sie, dass mein Onkel ermordet wurde?»
«Leider weiß ich, dass es so war. Es tut mir leid.»
Die Gewissheit der Journalistin wirkt befreiend. Dann wirst du also doch nicht verrückt . «Ich weiß von seiner Arbeit für Seaboard und das Verteidigungsministerium. Ich habe den fertigen Bericht zwar nie gesehen, aber ich habe die mathematischen Berechnungen überprüft, als ich Rufus im Juni besuchte. Wir sind immer gegenseitig unsere
Weitere Kostenlose Bücher