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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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vorantasten. Durch vereinzelte, schmale Fenster drang spärliches Licht. Völlige Stille, bis auf unsere Schritte und E.s feminine Atemgeräusche, die mich an die Nocturnes mit ihrer Mutter erinnerten. Die van de Veldes sind sechs endlose Allegretti auf einem verstimmten Cembalo, und in meinen Ohren klang es vor Dankbarkeit, sie los zu sein. Völlig vergessen, die Stufen zu zählen, dachte ich laut. Meine Stimme klang, als käme sie aus einem Schrank voller Wolldecken. Eva antwortete mit einem trägen «Oui …»
    Gelangten in einen luftigen Raum, in dem sich die wagenradgroßen Zahnräder des Uhrwerks befanden. Taue und Stahlseile verschwanden in der Decke. In einem Liegestuhl döste ein Faktotum. Es sollte unsere Billetts abreißen – auf dem Kontinent muß man immerzu ein Billett vorzeigen –, doch wir schlüpften an ihm vorbei und stiegen über eine Holztreppe hinauf zur Aussicht.
    Tief unter uns breitete sich das dreifarbige Brügge aus: dachziegelorange, mauergrau, kanalbraun. Pferde, Automobile, Fahrradfahrer, Chorknaben in Zweierreihen, Dächer, so spitz wie Hexenhüte, volle Wäscheleinen in den Seitenstraßen. Hielt Ausschau nach Ostende, entdeckte es. Ein sonnenbeschienener Streifen Nordsee färbte sich in polynesischem Ultramarin. Möwen kreisten im Luftstrom, mir wurde vom Zusehen schwindelig, und ich dachte an Ewings Albatros. Eva rief, sie habe die van de Veldes entdeckt. Hielt es für eine Anspielung auf deren Leibesfülle, doch mein Blick folgte ihrem Finger, und siehe da, sechs kleine pastellfarbene Kleckse an einem Cafétisch. E. faltete ihr Billett zu einer Papierschwalbe und warf sie über die Brüstung. Der Wind trug sie davon, bis die Sonne sie verbrannte. Und was würde sie tun, wenn das Faktotum aufwachte und nach ihrem Billett verlangte? «Ich breche in Tränen aus und behaupte, der schreckliche junge Engländer hat es gestohlen.» Faltete meines ebenfalls zu einer Schwalbe, sagte, dafür habe sie keinerlei Beweise, und ließ sie fliegen. Anstatt in die Höhe zu schießen, stürzte meine Schwalbe sofort außer Sichtweite. E.s Charakter verändert sich mit dem Blickwinkel, aus dem man ihn betrachtet, eine Qualität besonders kostbarer Opale. «Ich kann mich nicht erinnern, Papa jemals so zufrieden und lebendig gesehen zu haben», sagte sie.
    Die schrecklichen v. d. V.s hatten Kameraden aus uns gemacht. Fragte sie ohne Umschweife, was in der Schweiz geschehen sei. Hatte sie sich verliebt, in einem Waisenhaus gearbeitet, eine mystische Begegnung in einer verschneiten Grotte gehabt?
    Sie setzte mehrere Male zu sprechen an. Schließlich sagte sie (errötend!): «Ich habe einen jungen Mann vermißt, den ich im Juni kennengelernt habe.»
    Du bist überrascht? Dann stell Dir vor, was ich empfand! Dennoch war ich der vollendete Gentleman, als den Du mich kennst. Anstatt ihr Flirten zu erwidern, sagte ich: «Und Ihr erster Eindruck von diesem jungen Mann? War er nicht gänzlich negativ?»
    «Nur zum Teil.» Ich betrachtete die Schweißperlen, die vom Aufstieg herrührten, ihren Mund und den hauchzarten Flaum über ihrer Oberlippe.
    «Ist er ein großer, dunkler, gutaussehender, musikalischer Ausländer?»
    Sie schnaubte. «Groß ist er, ja; dunkel, relativ; gutaussehend, nicht so gut, wie er glaubt, aber er fällt ins Auge; musikalisch, außerordentlich; Ausländer, durch und durch. Erstaunlich, daß Sie so gut über ihn Bescheid wissen! Spionieren Sie ihm auch hinterher, wenn er im Minnewater Park spazierengeht?» Ich mußte lachen. Sie ebenso. «Robert, ich fühle …» Sie sah mich schüchtern an. «Sie verfügen über Erfahrung. Darf ich Sie übrigens Robert nennen?»
    Es sei höchste Zeit, antwortete ich.
    «Mir fehlen … die passenden Worte. Sind Sie verärgert?»
    Nein, antwortete ich, nein. Überrascht, geschmeichelt, aber verärgert keineswegs.
    «Ich bin sehr gehässig zu Ihnen gewesen. Aber ich hoffe, wir können noch einmal ganz von vorne anfangen.» Natürlich, antwortete ich, sehr gerne. «Schon als Kind», sagte sie mit abgewandtem Blick, «stellte ich mir vor, dieser Balkon sei mein eigener Belvedere aus Tausendundeiner Nacht . Ich komme oft zu dieser Stunde hier herauf, nach der Schule. Dann bin ich die Kaiserin von Brügge. Die Bürger sind meine Untertanen. Die van de Veldes meine Hofnarren. Ich werde ihnen die Köpfe abhacken.» Sie ist wirklich ein betörendes Geschöpf. Mein Blut geriet in Wallung, und ich verspürte das Verlangen, die Kaiserin von Brügge innig zu

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