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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Besteck verschlucken, als jemals welches zu verkaufen. Drei gewaltige Stöße aus dem Nebelhorn, die Motoren änderten ihr Timbre, spürte, wie das Schiff ablegte, und ging an Deck, um zuzuschauen, wie Albion in Nieselregen und Düsternis verschwand. Kein Zurück mehr; die Folgen meines Handelns taten ihre Wirkung. R. V. W. dirigierte im Gedankenorchester die Sea Symphony: Sail forth, steer for the deep waters only, Reckless, O Soul, exploring, I with thee, and thou with me. (Mache mir nicht viel aus diesem Stück, aber es paßte glänzend ins Programm.) Der Nordseewind ließ mich frösteln, Gischt besprühte mich von der Sohle bis zum Scheitel. Das lackschwarze Wasser lud mich zum Springen ein. Ging nicht darauf ein. Legte mich früh ins Bett, blätterte in Noyes’ Kontrapunktlehre , lauschte den fernen Blechklängen des Maschinenraums und entwarf, inspiriert von den Rhythmen des Schiffes, eine monotone Passage für Posaune, war aber ziemlicher Quark, und jetzt rate mal, wer dann an meine Tür klopfte? Der kartoffelgesichtige Steward nach beendeter Schicht. Gab ihm reichlich mehr als ein Trinkgeld. Kein Adonis, dürr, aber einfallsreich für seine Klasse. Warf ihn anschließend hinaus und sank in den Schlaf der Toten. Teils wünschte ich mir, die Überfahrt möge niemals enden.
    Tat sie aber. Die Kentish Queen glitt durch das trübe Wasser ins schiefe Gebiß von Dovers Zwillingsschwester, Ostende, die Dame von zweifelhafter Tugend. Die ersten Morgenstunden, Europas Schnarchen grollte tiefer als eine Baßtuba. Sah meine 1. Einheimischen, kistenschleppende Belgier, die auf flämisch, niederländisch oder was auch immer stritten und dachten . Packte unverzüglich meine Reisetasche, aus Furcht, das Schiff könnte mit mir an Bord zurück nach England fahren, oder eher aus Furcht, ich könnte es geschehen lassen. Schnappte mir in der Kombüse der 1. Klasse eine Frucht aus dem Obstkorb und rannte die Gangway hinunter, bevor mich jemand mit Tressen an der Uniform zu fassen bekam. Setzte den Fuß auf kontinentalen Boden und fragte einen Zöllner nach dem Weg zum Bahnhof. Er zeigte auf eine ächzende Straßenbahn voll unterernährter Arbeiter, Armut und Rachitis. Entschied mich für Schusters Rappen, Nieselregen hin oder her. Folgte den Straßenbahnschienen durch sargähnliche Straßen. Ostende ist tapiokagrau, mit braunen Sprenkeln. Muß gestehen, hielt es plötzlich für einen saudummen Einfall, ausgerechnet nach Belgien zu fliehen. Kaufte ein Billett nach Brügge und hievte mich in den nächsten Zug – keine Bahnsteige, ist das nicht unerhört? – ein altersschwaches, leeres Gefährt. Wechselte das Abteil, weil es in meinem unangenehm roch, doch überall herrschte derselbe Mief. Um die Luft zu reinigen, rauchte ich die Zigaretten, die ich bei Victor Bryant geschnorrt hatte. Die Pfeife des Stationsvorstehers ging pünktlich, die Lokomotive mühte sich wie ein gichtkranker Disziplinarbeamter auf dem Lokus, bis sie sich schließlich schwerfällig in Bewegung setzte. Bald darauf dampften wir in beachtlichem Tempo durch eine Nebellandschaft mit ungepflegten Deichen und zerstörten Wäldchen.
    Sofern mein Plan Früchte trägt, Sixsmith, wirst Du mich vielleicht schon sehr bald in Brügge besuchen. Komm unbedingt mit dem Zug um sechs Uhr morgens, zur Stunde der Gnossiennes , und verliere Dich in dieser Stadt: sieche Straßen, blinde Kanäle, schmiedeeiserne Tore, ausgestorbene Höfe – darf ich weitermachen? Ach, natürlich darf ich –, gotische Häuser mit panzernen Spitzdächern so hoch wie der Ararat, unkrautbewachsene Backsteintürme, mittelalterliche Erker, Fenster mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, Pflastersteinstrudel, die magisch deinen Blick ansaugen, mechanische Prinzen und abgestoßene Prinzessinnen, die zu jeder vollen Stunde schlagen, rußgeschwärzte Möwen und Glockentöne über drei bis vier Oktaven, manche ernst, manche heiter.
    Duft nach frischem Brot führte mich zu einer Bäckerei, wo mir eine mißgestaltete Frau ohne Nase ein Dutzend ½mondförmiger Gebäckstücke verkaufte. Wollte nur ein einziges, aber dachte, sie hätte es schon schwer genug. Ein Lumpenwagen tauchte rumpelnd aus dem Nebel auf, der zahnlose Fahrer sprach mich freundlich an, doch ich konnte nur «Excusez-moi, je ne parle pas Flamand» erwidern, worauf er lachte wie der König der Kobolde. Schenkte ihm ein Gebäckstück. Seine Hand eine schmutzige, grindige Klaue. In einem Armenviertel (Gassen stanken nach Kloake) halfen Kinder

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