Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
ihren Müttern bei den Wasserpumpen und füllten gesprungene Krüge mit brauner Brühe. Schließlich holte mich die Aufregung ein. Setzte mich zum Verschnaufen auf die Stufen einer sterbenden Windmühle, grub mich zum Schutz vor der Feuchtigkeit in meine Kleider, schlief ein.
    Wurde von einer Hexe geweckt, die mich mit ihrem Besenstiel anstieß und etwas wie «Zie gie doad misschien?» kreischte, aber verbürgen kann ich mich nicht dafür. Blauer Himmel, warmer Sonnenschein, nicht eine Nebelschwade. Blinzelnd, aber mit frisch geweckten Lebensgeistern, bot ich ihr ein Gebäckstück an. Sie nahm es argwöhnisch, steckte es für später in ihre Schürze und fuhr, eine alte Weise brummend, mit Fegen fort. Kann wohl von Glück sagen, daß ich nicht ausgeraubt wurde. Teilte mir mit fünftausend Tauben ein weiteres Gebäckstück, zum Neid eines Bettlers, mußte also auch ihm eins geben. Ging den Weg zurück, den ich meinem Gefühl nach gekommen war. In einem eigenartigen fünfeckigen Fenster arrangierte ein zartes junges Ding einen Strauß Usambaraveilchen in einer Kristallvase. Mädchen bezaubern auf ganz eigene Weise. Probiere irgendwann mal eines aus. Klopfte an die Scheibe und fragte auf französisch, ob sie mir das Leben retten und sich in mich verlieben wolle. Erntete Kopfschütteln, aber auch ein belustigtes Lächeln. Erkundigte mich nach dem Weg zur nächsten Polizeiwache. Sie zeigte über eine Kreuzung.
    Einen Musikerkollegen erkennt man überall, sogar unter Polizisten. Der mit dem irrsten Blick, dem wildesten Schopf, entweder hungrig-mager oder fröhlich-beleibt. Dieser hier, ein französischsprechender Inspektor, der im städtischen Opernverein das Englischhorn blies, hatte von Vyvyan Ayrs gehört und zeichnete mir den Weg nach Neerbeke auf. Bezahlte ihn für seine Freundlichkeit mit zwei Gebäckstücken. Er fragte, ob ich meinen britischen Wagen verschifft hätte – sein Sohn sei ganz versessen auf Austins. Erklärte ihm, ich besäße kein Auto. Das besorgte ihn. Wie sollte ich ohne nach Neerbeke kommen? Kein Bus, keine Zugverbindung, und vierzig Kilometer seien ein verteufelt langer Fußmarsch. Fragte ihn, ob ich mir auf unbestimmte Zeit ein Polizeifahrrad borgen könne. Das sei aber höchst ungewöhnlich, meinte er. Versicherte ihm, daß auch ich höchst ungewöhnlich sei, und schilderte ihm in knappen Worten meinen Auftrag bei Ayrs, Belgiens berühmtestem Adoptivsohn (sind sicher so rar gesät, daß es sogar wahr sein könnte), im Dienste der europäischen Musik. Wiederholte meine Bitte. Unglaubwürdige Wahrheiten leisten mitunter bessere Dienste als glaubwürdige Märchen, und dies war so ein Fall. Der ehrenwerte Wachtmeister führte mich in ein Lager, wo verlorene Gegenstände einige Monate lang auf ihre rechtmäßigen Besitzer warten (bis sie schließlich den Weg auf den Schwarzmarkt finden) – doch zuvor wollte er meine Meinung zu seinem Bariton hören. Er schmetterte «Recitar! … Vesti la giubba!» aus I Pagliacci . (Recht angenehm in den tieferen Lagen, aber an der Atemtechnik muß gearbeitet werden, und sein Vibrato zitterte wie ein Donnerblech auf der Hinterbühne.) Gab ihm ein paar musikalische Hinweise; erhielt als Leihgabe ein Victorian Enfield samt hinterem Schutzblech und Schnur, um Tasche und Mappe am Sattel zu befestigen. Er wünschte mir bon voyage und schönes Wetter.
    Adrian wäre niemals die Straße entlangmarschiert, auf der ich aus Brügge hinausradelte (zu weit auf teutonischem Gebiet), und dennoch fühlte ich mich meinem Bruder verbunden, weil ich die gleiche fremde Luft atmete. Das Land ist so flach wie die Fens, aber in schlimmem Zustand. Unterwegs stärkte ich mich mit den letzten Gebäckstücken und hielt einige Male bei ärmlichen Häuschen auf eine Tasse Wasser an. Die Menschen sprachen nicht viel, aber keiner wies mich ab. Dank des Gegenwinds und der immerzu abspringenden Kette war es bereits später Nachmittag, als ich in Ayrs’ Dorf Neerbeke ankam. Ein schweigsamer Schmied zeigte mir den Weg zu Château Zedelghem, indem er meine Karte ausführlich mit einem Bleistiftstummel bearbeitete. Ein Feldweg, in dessen Mitte Leinkraut und Glockenblumen wuchsen, führte mich, vorbei an einem verlassenen Pförtnerhaus, zu einer einstmals prächtigen Allee mit alten Pyramidenpappeln.
    Zedelghem ist eindrucksvoller als unser Pfarrhaus, der Westflügel wird von mehreren bröckelnden Türmchen geziert, aber Audley End oder dem Landsitz der Capon-Tenchs kann es nicht das Wasser reichen.

Weitere Kostenlose Bücher