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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Weil sie mir unter dem Tisch gegen das Schienbein tritt, wenn ich ihr Vorhaben, Ägyptologin zu werden, belächele. Weil sie mich an anderes denken läßt als an mich selbst. Weil sie sogar strahlt, wenn sie ernst ist. Weil sie Reisebeschreibungen mehr mag als Sir Walter Scott und Billy Mayerl mehr als Mozart, und weil sie eine Tonleiter nicht von einer Strickleiter unterscheiden kann. Weil ich , nur ich, ihr Lächeln sehe, bevor es eine Winzigkeit später auf ihrem Gesicht erscheint. Weil Kaiser Robert kein guter Mensch ist – seine besten Seiten sind von seiner nicht aufgeführten Musik beherrscht –, sie mir aber trotzdem dieses herrlichste aller Lächeln schenkt. Weil wir den Nachtschwalben gelauscht haben. Weil ihr Lachen aus einem Atemloch auf ihrem Kopf sprudelt und sich über den ganzen Morgen versprüht. Weil ein Mann wie ich kein Recht auf dieses Inbild der Schönheit hat und sie dennoch bei mir ist, in den schalldichten Kammern meines Herzens.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Le Royal Hôtel, Brügge
    6-XI-1931
     
    Sixsmith,
    Trennungen. Sehr schmutzige Angelegenheiten, doch Ayrs’ und meine vollzog sich an einem einzigen Tag. Gestern morgen arbeiteten wir noch am 2. Satz seines ehrgeizigen Schwanengesangs. Er gab eine neue Arbeitsmethode aus. «Frobisher, heute möchte ich, daß Sie einige Themen für den Severo -Satz entwickeln. Vorkriegsstimmung, e-Moll. Sobald Sie etwas haben, das mein Interesse weckt, übernehme ich und schöpfe das Potential aus. Verstanden?»
    Verstanden: ja. Erfreut: nein, nicht im geringsten. Wissenschaftliche Arbeiten werden gemeinsam verfaßt, ja, und ein Komponist mag mit einem Virtuosen zusammenarbeiten, um die Grenzen des Spielbaren zu erkunden – so wie Elgar mit W. H. Reed –, aber ein gemeinsam komponiertes sinfonisches Werk? Sehr fragwürdiger Einfall, was ich auch unmißverständlich sagte. Er reagierte ungehalten. «Von gemeinsamer Komposition war nicht die Rede, mein Junge. Sie liefern das Rohmaterial, ich verfeinere es nach meinem Ermessen.» Das trug kaum zu meiner Beruhigung bei. «Alle Großen haben dafür ihre Schüler», rüffelte er mich. «Wie hätte Bach wohl sonst jede Woche neue Messen produzieren können?»
    Soweit mir bekannt sei, lebten wir inzwischen im zwanzigsten Jahrhundert, erwiderte ich scharf. Das Publikum wolle den Komponisten hören, dessen Name auf dem Programmheft vermerkt sei. Es bezahle nicht für Vyvyan Ayrs, um Robert Frobisher zu bekommen. V. A. geriet in Rage. «Es ‹bekommt› nicht Sie! Es bekommt mich! Sie hören nicht zu, Frobisher. Sie erledigen die Vorarbeiten, ich orchestriere, arrangiere und verleihe den letzten Schliff.»
    «Vorarbeiten» wie mein Engel von Mons , der mir mit vorgehaltener Pistole für das Adagio seines glanzvollen letzten Satzes geraubt worden sei? Man könne es noch so sehr beschönigen, Plagiat bleibe Plagiat. «Plagiat?» Ayrs hielt die Stimme gesenkt, aber die Fingerknöchel am Stockknauf wurden schneeweiß. «Früher – als Sie für meinen Unterricht noch dankbar waren – nannten Sie mich einen der größten lebenden Komponisten Europas. Sprich, der Welt. Warum sollte es ein so großer Künstler nötig haben, bei einem Kopisten abzukupfern, der, wenn ich ihn daran erinnern darf, nicht einmal einen Abschluß an einem College für die hoffnungslos Überprivilegierten zustande gebracht hat? Sie sind nicht hungrig genug, mein Junge, das ist Ihr Problem. Sie sind ein Mendelssohn mit Mozartperücke.»
    Der Einsatz schoß in die Höhe wie die Inflation in Deutschland, aber meine Natur verbietet mir, unter Druck klein beizugeben – ich schlage zurück. «Ich kann Ihnen sagen, warum Sie abkupfern müssen! Musikalische Impotenz!» Die großartigsten Momente im Todtenvogel stammten von mir, erklärte ich ihm. Ebenso die geniale Kontrapunktik im Allegro ma non troppo seines neuen Werks. Ich sei nicht nach Belgien gekommen, um für ihn den Handlanger zu spielen.
    Der alte Drache blies Rauch aus. Zehn 6/8-Takte Schweigen. Er drückte seine Zigarette aus. «Ihre Bockigkeit verdient keine ernsthafte Beachtung. Genaugenommen verdient sie die Entlassung, doch das hieße, in der Hitze des Gefechts zu handeln. Nein, ich will, daß Sie Ihren Grips anstrengen. Was bedeutet Reputation?» Ayrs zog das Wort genüßlich in die Länge. «Reputation bedeutet alles. Meine ist, abgesehen von meiner jugendlichen Ausgelassenheit, die mir die Syphilis einbrachte, über jeden Vorwurf erhaben. Ihre, mein enterbter,

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