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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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küssen.
    Weiter kam ich nicht. Eine Gruppe gräßlicher amerikanischer Touristen strömte durch die enge Tür, und ich Dummkopf gab vor, ich sei allein heraufgekommen. Betrachtete die Aussicht von der anderen Seite, versuchte, meine Gedanken, meine Gefühle zu entwirren. Als das Faktotum bekanntgab, der Turm werde gleich geschlossen, war Eva fort. Typisch! Vergaß beim Abstieg erneut, die Stufen zu zählen.
    In der Konditorei half Eva der kleinsten v. d. V. bei ihrem Fadenspiel. Mme. van de Velde fächelte sich mit einer Speisekarte Luft zu und aß mit Marie-Louise Boule d’Yser, während beide die Mode der Passanten sezierten. Eva wich meinen Blicken aus. Der Zauber war gebrochen. Marie-Louise suchte meinen Blick, die stieläugige kleine Färse. Schlenderten zurück zum Haus der v. d. V.s, wo, halleluja, Hendrick mit dem Cowley wartete. Eva sagte mir an der Tür Au revoir – blickte mich noch einmal nach ihrem Lächeln um. Himmlisch! Der Abend war golden und warm. Während der ganzen Fahrt nach Neerbeke sah ich Evas Gesicht, in das der Wind ein, zwei Haarsträhnen geweht hatte. Sei kein eifersüchtiges Scheusal, Sixsmith. Du weißt doch, wie das ist.
    J. spürt die Entente zwischen Eva und mir, und das schmeckt ihr überhaupt nicht. Gestern nacht stellte ich mir vor, ich hätte E. unter mir und nicht die Mutter. Das Crescendo folgte nur wenige Takte später, einen ganzen Satz früher als J.s. Merken Frauen, wenn man sie in Gedanken betrügt? Ich frage, weil sie mit erstaunlicher Intuition folgende feinsinnige Drohung aussprach: «Eines sollst du wissen, Robert. Falls du Eva jemals anfaßt, werde ich es herausfinden und dich vernichten.»
    «Daran würde ich nicht mal denken», log ich.
    «An deiner Stelle würde ich nicht mal davon träumen», warnte sie mich.
    Konnte das nicht auf mir sitzenlassen. «Verdammt, wie kommst du darauf, ich könnte mich zu deiner ungezogenen, schlaksigen Tochter hingezogen fühlen?» Sie gab exakt dasselbe Schnauben von sich wie Eva oben auf ihrem Belvedere.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Zedelghem
    24-X-1931
     
    Sixsmith,
    zum Teufel, wo bleibt Deine Antwort? Ich bin Dir sehr zu Dank verpflichtet, aber wenn Du glaubst, ich warte auf Deine Briefe, bis ich schwarz werde, bist Du gewaltig im Irrtum. Zutiefst abscheulich ist das, genauso abscheulich wie mein scheinheiliger Vater. Ich könnte ihn zugrunde richten. Er hat mich zugrunde gerichtet. Auf den Untergang der Welt zu warten ist der älteste Zeitvertreib der Menschheit. Dhondt hat recht, zur Hölle mit dem Belgier, zur Hölle mit allen Belgiern. Adrian wäre noch am Leben, wenn es das ach so tapfere kleine Belgien nie gegeben hätte. Man sollte dieses Zwergenland in einen gigantischen Rudersee verwandeln und den Erfinder Belgiens mit einer Minervastatue an den Füßen hineinwerfen. Schwimmt er oben, ist er schuldig. Mögen die elenden Augen meines Vaters von einem weißglühenden Schürhaken durchbohrt werden! Nenn mir einen. Na los, nenn mir einen einzigen berühmten Belgier. Er hat mehr Geld als Rothschild, aber rückt er auch nur einen Penny raus? Erbärmlich, so erbärmlich. Ist es etwa christlich, mich bis auf den letzten Shilling zu enterben? Ertrinken wäre noch zu gut für ihn. Dhondt hat leider recht. Die Krankheit Krieg wird nie geheilt werden, sie klingt höchstens für einige Jahre ab. Wir wünschen uns das Ende, also werden wir das Ende auch bekommen. Ha! Vertone das. Kesselpauken, Becken und eine Million Trompeten, aber dalli, wenn ich bitten darf. Den alten Dreckskerl mit meiner eigenen Musik bezahlen. Bringt mich um.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Zedelghem
    29-X-1931
     
    Sixsmith,
    Eva. Weil ihr Name ein Synonym für die Versuchung ist: Was dringt tiefer in das Innerste des Menschen vor? Weil ihre Seele in ihren Augen schwimmt. Weil ich im Traum durch samtene Vorhänge zu ihrem Zimmer schleiche: Ich öffne die Tür, summe ihr leise, ganz, ganz leise eine Melodie, sie steht mit nackten Füßen auf meinen, ihr Ohr an meinem Herzen, und wir tanzen wie zwei Marionetten. Nach dem ersten Kuß sagt sie: «Vous embrassez comme un poisson rouge!», und in mondbeschienenen Spiegeln verlieben wir uns in unsere Jugend und in unsere Schönheit. Weil kultivierte Närrinnen von jeher meinen, mich verstehen , mich heilen zu müssen, während Eva mich als Terra incognita erkennt und sich, so wie Du einst, alle Zeit der Welt läßt, mich zu erkunden. Weil sie so mager ist wie ein Junge. Weil sie nach Mandeln duftet, nach Wiesengras.

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