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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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spielsüchtiger, bankrotter Freund, ist dahin. Verlassen Sie Zedelghem, wann immer es Ihnen beliebt. Aber seien Sie gewarnt. Gehen Sie ohne meine Einwilligung, wird jede musikalische Gesellschaft westlich des Urals, östlich von Lissabon, nördlich von Neapel und südlich von Helsinki erfahren, daß ein Schurke namens Robert Frobisher der geliebten Frau des ½blinden Vyvyan Ayrs, nämlich der bezaubernden Mevrouw Crommelynck, Gewalt angetan hat. Sie wird es nicht leugnen. Stellen Sie sich den Skandal vor! Nach allem, was Ayrs zuvor für Frobisher getan hat … niemand, kein reicher Gönner, kein verarmter Gönner, kein Festivalleiter, kein Direktorium, kein Elternpaar, dessen kleiner Schafskopf Klavierunterricht haben möchte, wird jemals wieder etwas mit Ihnen zu tun haben wollen.»
    V. A. weiß also Bescheid. Seit Wochen, Monaten wahrscheinlich. War wie vor den Kopf geschlagen. Unterstrich meine Ohnmacht noch, indem ich Ayrs wüst beschimpfte. «Ach, Sie schmeicheln mir!» triumphierte er. «Zugabe, Maestro!» Mußte mich zurückhalten, den von der Syph zerfressenen Leichnam nicht mit dem Fagott totzuschlagen. Konnte mich nicht zurückhalten, ihm zuzuzischen, daß seine Frau vielleicht nicht mit jedem Kerl ins Bett ginge, wenn er als Ehemann nur ½ so gut wäre wie darin, andere zu manipulieren und die Ideen Besserer zu stehlen. Und überhaupt, fuhr ich fort, wie glaubwürdig könne sein Feldzug, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen, wohl sein, wenn ganz Europa erfahre, was Frau Jocasta Crommelynck in ihrem Privatleben treibe?
    Ließ ihn völlig kalt. «Sie dummer Esel, Frobisher. Jocastas zahlreiche Affären verlaufen von jeher diskret. Die herrschende Klasse der Gesellschaft ist überall von Unmoral durchsetzt, was glauben Sie, wie sie sonst ihre Macht erhielte? Der gute Ruf ist der König des öffentlichen Lebens, nicht des privaten. Er wird von öffentlichen Handlungen entthront. Enterbung. Flucht aus berühmten Hotels. Zahlungsverzug gegenüber den letzten Kreditgebern des niederen Adels. Jocasta hatte meinen Segen, als sie Sie verführte, Sie hochnäsiger Schwätzer. Ich brauchte Sie, um den Todtenvogel zu beenden. Sie halten sich für einen vergnügten Rammler, aber Jocasta und mich verbindet eine Alchemie, die Sie nicht einmal erahnen können. Jocastas Liebe zu Ihnen wird in dem Moment erkalten, in dem Sie uns bedrohen. Warten Sie es ab. Nein, gehen Sie und kommen Sie morgen mit erledigten Hausaufgaben wieder. Wir werden so tun, als hätten es Ihren kleinen Tobsuchtsanfall nie gegeben.»
    Willigte nur allzu gerne ein. Brauchte Zeit zum Nachdenken.
    J. muß bei der Erforschung meiner jüngsten Vergangenheit eine wesentliche Rolle gespielt haben. Hendrick spricht kein Englisch, und   V. A. hätte das niemals allein unternehmen können. Anscheinend hat sie eine Schwäche für undurchsichtige Männer – was erklärt, warum sie Ayrs geheiratet hat. Wo E. bei alldem steht, bleibt mir verborgen, denn gestern war Mittwoch und sie war in Brügge in der Schule. Aber wenn sie von meiner Affäre mit ihrer Mutter weiß, hätte sie mir kaum so offen ihre Liebe gezeigt. Oder?
    Nachmittags spazierte ich in einsamer Wut über die öden Felder. Suchte im Tor einer ausgebombten Kapelle Schutz vor dem Hagel, dachte an E., dachte an E., dachte an E. Zwei Dinge waren klar: Würde mich eher am Fahnenmast von Zedelghem aufhängen, als meine Talente auch nur einen Tag länger vom parasitären Schloßherrn ausbeuten zu lassen; und E. nie wiederzusehen war unvorstellbar. «Es wird böse enden, Frobisher!» Ja, vielleicht, der Versuch, gemeinsam durchzubrennen, endet häufig so, aber ich liebe sie, ich liebe sie wirklich, und daran läßt sich nichts ändern.
    Kehrte kurz vor Einbruch der Dunkelheit zum Schloß zurück, aß Aufschnitt in Mrs.   Willems Küche. Erfuhr, daß die Circe J. wegen geschäftlicher Angelegenheiten in Brüssel weilte und über Nacht dort blieb. Hendrick erzählte mir, V. A. habe sich mit seinem Radio frühzeitig zurückgezogen und wolle nicht gestört werden. Bestens. Nahm ein ausgiebiges Bad und schrieb eine diffizile Folge auf- und absteigender Baßlinien. In Krisenzeiten flüchte ich mich in die Musik, wo mir nichts passieren kann. Zog mich ebenfalls früh zurück, schloß meine Tür ab und packte meine Reisetasche.
    Heute morgen um vier Uhr bei Frost und Nebel aufgestanden. Wollte   V. A. einen letzten Besuch abstatten. Schlich auf Socken über die winterlichen Flure zu Ayrs’ Schlafzimmer.

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