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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Machte zitternd die Tür auf, ganz langsam, um ja kein Geräusch zu machen – Hendrick schläft in einem der benachbarten Zimmer. Kein Licht an, aber im Schein des heruntergebrannten Kaminfeuers sah ich Ayrs im Bett liegen, regungslos wie eine Mumie im Britischen Museum. Das Zimmer stank nach bitterer Arznei. Schlich zu seinem Nachtschrank. Die Schublade klemmte, und als ich daran zog, geriet eine Ätherflasche ins Wanken – fing sie gerade noch auf. V. A.s Luger lag, eingewickelt in ein Ledertuch und ein Netzhemd, neben einer kleinen Untertasse mit Patronen. Sie klapperten aneinander. Ayrs zerbrechlicher Schädel war dicht neben mir, aber er wachte nicht auf. Sein röchelnder Atem klang wie ein schäbiger alter Leierkasten. Folgte einem spontanen Impuls und steckte eine Handvoll Patronen ein.
    Über Ayrs’ Adamsapfel pochte eine blaue Ader, und ich bezwang das unerklärlich heftige Verlangen, sie mit meinem Taschenmesser zu öffnen. Zutiefst unheimlich. Eher ein Jamais-vu als ein Déjà-vu. Das Töten, eine Erfahrung, die außerhalb von Kriegszeiten nur wenige machen. Welches Timbre hat ein Mord? Sei unbesorgt, ich schreibe Dir kein Mordgeständnis. Weiter an meinem Sextett zu arbeiten, während ich als Verbrecher gejagt werde, wäre viel zu strapaziös, und in besudelter Unterwäsche am Galgen zu baumeln ist für einen Komponisten wohl kaum ein würdiges Ende. Schlimmer noch, ein kaltblütiger Mord an Evas Vater könnte ihre Gefühle für mich zum Erlöschen bringen. V. A. schlummerte seelenruhig weiter, und ich steckte die Pistole ein. Hatte die Patronen schon gestohlen, also war es gewissermaßen folgerichtig, auch die Luger zu nehmen. Eigenartig schwer, Pistolen. Mit einem tiefen Baßton vibrierte sie an meinem Schenkel: diese kleine Luger hat zweifellos Menschen getötet. Warum ich sie nahm? Kann es Dir nicht genau sagen. Aber halte ihre Mündung an Dein Ohr, und Du hörst die Welt auf neue Weise.
    Letzter Anlaufhafen war Evas leeres Zimmer. Legte mich auf ihr Bett, strich über ihre Kleider, Du weißt, wie gefühlsselig ich bei Abschieden werde. Hinterließ auf ihrer Frisierkommode den kürzesten Brief meines Lebens: «Kaiserin von Brügge. Euer Belvedere, Eure Stunde.» Zurück in mein Zimmer. Sagte meinem Himmelbett zärtlich Lebwohl, öffnete das störrische Schiebefenster und floh über das vereiste Dach. Fast hätte ich flog schreiben müssen – ein Dachziegel löste sich und zersprang unten auf dem Kiesweg. Legte mich flach auf den Bauch, da ich jeden Augenblick mit großem Krakeel rechnete, aber niemand hatte etwas gehört. Erreichte mit Hilfe der zuvorkommenden Eibe den Boden, machte einen Bogen um den Ziergarten mit dem angrenzenden Dienstbotentrakt und eilte durch den eisgrauen Kräutergarten. Gelangte zur Vorderseite des Schlosses und verließ Zedelghem über den Mönchsweg. Scharfer Ostwind von der Steppe, war froh über Ayrs’ Schaffelljacke. Hörte arthritische Pappeln, Nachtschwalben in den versteinerten Bäumen, einen verrückt gewordenen Hund, Schritte auf gefrorenem Kies, den immer schneller werdenden Puls in meinen Schläfen, auch ein wenig Trauer, um das Jahr, um mich selbst. Ging am alten Pförtnerhaus vorbei, nahm die Straße nach Brügge. Hatte gehofft, ein Milchwagen oder ein Pferdewagen würden mich mitnehmen, aber es war niemand unterwegs. Die Sterne verblaßten im eisigen Vormorgengrauen. In einigen der Häuschen wurden Kerzen angezündet, sah ein glühendes Gesicht in der Schmiede, aber die Straße nach Norden gehörte mir allein.
    So glaubte ich jedenfalls, bis ich hinter mir einen Wagen näher kommen hörte. Wollte mich nicht verstecken, also blieb ich stehen und drehte mich um. Blendende Scheinwerfer, der Wagen drosselte das Tempo, der Motor wurde abgewürgt, und eine bekannte Stimme schrie: «Und wo schleichen Sie sich zu dieser unchristlichen Stunde hin?»
    Keine andere als Mrs.   Dhondt, eingehüllt in einen schwarzen Robbenfellmantel. Hatten die Ayrs sie losgeschickt, um den entlaufenen Sklaven einzufangen? In meiner Verwirrung stammelte ich wie ein Vollidiot: «Oh, es gab einen Unfall!»
    Verfluchte mich selbst für diese ausweglose Lüge, schließlich war ich allein, sichtbar kerngesund und mit Reisetasche und Ranzen zu Fuß unterwegs. «Wie entsetzlich!» rief Mrs.   Dhondt in kriegerischem Elan und half mir so auf die Sprünge. «Wer ist denn der Unglückliche? Freund oder Verwandter?»
    Ich ergriff den Rettungsring. «Freund.»
    «Deshalb hat Bruno Mr.   Ayrs

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