Der Wolkenatlas (German Edition)
immer davon abgeraten, sich einen Cowley zuzulegen! Kein Verlaß, wenn man ihn braucht. Warum hat Jocasta mich nicht angerufen, das dumme Ding? Steigen Sie ein! Eine meine Araberstuten hat vor einer Stunde zwei prächtige Fohlen geboren, und alle drei sind wohlauf! Ich war auf der Heimfahrt, aber ich bin viel zu aufgeregt zum Schlafen, ich bringe Sie nach Ostende, falls Sie in Brügge Ihren Zug versäumen. Ich fahre für mein Leben gern zu dieser Stunde. Um was für ein Unglück handelt es sich denn? Kopf hoch, Robert. Gehen Sie nie vom Schlimmsten aus, bevor Sie nicht genau im Bilde sind.»
Dank einiger schlichter Unwahrheiten erreichte ich Brügge im Morgengrauen. Entschied mich für das bezaubernde Hotel gegenüber von St. Wenceslas, weil es von außen einer Buchstütze ähnelt und die Blumenkästen so hübsch mit kleinen Tannen bepflanzt sind. Mein Zimmer geht zur Westseite auf einen ruhigen Kanal. Werde gleich ein Nickerchen machen, bis es Zeit ist, zum Glockenturm zu gehen. Vielleicht ist E. dort. Wenn nicht, lege ich mich in einer Gasse nahe ihrer Schule auf die Lauer und fange sie ab. Taucht sie dort nicht auf, könnte ein Besuch bei den van de Veldes nötig werden. Wurde mein Name mit Schmutz überhäuft, verkleide ich mich als Schornsteinfeger. Werde ich entlarvt, ein langer Brief. Wird langer Brief abgefangen, wartet auf ihrer Frisierkommode ein zweiter. Ich bin ein beharrlicher Mensch.
Dein
R. F.
PS: – Danke für Deinen besorgten Brief vom 5. November, aber warum so gluckenhaft? Ja, natürlich geht es mir gut – abgesehen von den Folgen des geschilderten Malheurs mit V. A. Sehr gut sogar. Mein Geist ist jeder erdenklichen schöpferischen Aufgabe gewachsen. Komponiere die beste Musik meines Lebens; der Welt. Habe Geld in der Brieftasche und noch mehr auf der 1. Belgischen Bank. Dabei fällt mir ein. Falls Otto Jansch partout nicht von den dreißig Guineas für die beiden Münthe-Bände abrücken will, sag ihm, er soll seiner Mutter das Fell abziehen und sie pökeln. Erkundige Dich, was der Russe in der Greek Street ausspuckt.
PPS: – Eine letzte zufallsglückliche Entdeckung. Auf Zedelghem, beim Packen, als ich nachsah, ob nichts unters Bett gerollt war. Fand die Hälfte eines Buches, das ein längst abgereister Gast unter eins der Beine geklemmt hatte, damit das Bett zu wackeln aufhörte. Ein preußischer Offizier vielleicht, oder Debussy, wer weiß? Dachte mir zuerst nichts dabei, bis ich den Titel auf dem Buchrücken las. Hob das Bett trotz des vielen Drecks an und zog das ½ Buch heraus. Natürlich: Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing . Von der Stelle, wo es abbricht, bis zum Ende des 1. Bandes. Ist das nicht unglaublich? Steckte es in meine Reisetasche. Werde es in Kürze verschlingen. Glücklicher, sterbender Ewing, der nie die abscheulichen Gestalten zu Gesicht bekam, die in den Seitenstraßen der Geschichte lauern.
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Le Royal Hôtel, Brügge
Ende XI-1931
Sixsmith,
arbeite nachts buchstäblich bis zum Umfallen am Wolkenatlas-Sextett, anders kann ich nicht einschlafen. Mein Geist ist ein Goldregen schöpferischer Phantasie. Die Musik eines ganzes Lebens, auf einen Schlag. Die Grenzen zwischen Tönen und Geräuschen sind nichts als Konvention, das erkenne ich jetzt. Alle Grenzen sind Konvention, auch Ländergrenzen. Man kann sich über jede Konvention hinwegsetzen, man muß nur auf die Idee kommen. Nimm diese Insel inmitten von Timbre und Rhythmus, in keinem Theoriebuch verzeichnet, aber sie ist da! Höre im Geiste die Instrumente, vollendete Klarheit, die Erfüllung meiner Wünsche. Wenn die Musik fertig ist, wird in mir nichts mehr sein, das weiß ich, aber der Sold, den ich in meiner schwitzigen Hand halte, ist der Stein der Weisen! Ein Mann wie Ayrs verteilt die ihm bewilligte Ration kleckerweise auf ein sich dahinschleppendes Leben. Ich nicht. Nichts gehört von V. A. oder seiner ehebrecherischen, melodramatischen Gummigattin. Vermutlich glauben sie, ich sei zurück nach England geflüchtet. Gestern nacht geträumt, ich falle vom Imperial Western und klammere mich an der Regenrinne fest. Ein Geigenton, grauenhaft unsauber – das ist der letzte Ton meines Sextetts.
Fühle mich ausgezeichnet. Wünschte, ich könnte Dir dieses Strahlen zeigen. Propheten wurden beim Anblick Jehovas blind. Nicht taub, sondern blind, man beachte den Unterschied. Konnte den Ton noch immer hören. Führe den ganzen Tag lang Selbstgespräche. Anfangs tat ich es
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