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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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geistesabwesend, die menschliche Stimme beruhigt mich so, doch jetzt kostet es mich große Mühe, damit aufzuhören, also lasse ich es einfach geschehen. Wenn ich nicht komponiere, gehe ich spazieren. Könnte inzwischen einen Michelin-Führer über Brügge schreiben, wenn ich nur genug Raum hätte, genug Zeit. Durch die ärmeren Viertel, nicht nur die Haine der Reichen. Hinter einem schmutzigen Fenster arrangierte eine Großmutter Usambaraveilchen in einer Vase. Klopfte an die Scheibe und bat sie, sich in mich zu verlieben. Sie schürzte die Lippen, verstand wohl kein Französisch, doch ich versuchte es erneut. Kugelköpfiger, völlig kinnloser Mann erschien am Fenster und stieß hitzige Flüche gegen mich und meine Familie aus.
    Eva. Jeden Tag steige ich den Glockenturm hinauf und skandiere dabei ein glückbringendes Lied: «Heu-te-heu-te-bit-te-laß-sie-heu-te-da-sein.» Nichts, obwohl ich warte, bis es dunkel wird. Goldene Tage, bronzene Tage, eiserne Tage, nasse Tage, neblige Tage. Sonnenuntergänge wie türkischer Honig. Die Nacht bricht herein, beißende Kälte. Unten auf der Erde wird Eva in einem Klassenzimmer bewacht, kaut an ihrem Bleistift, träumt davon, bei mir zu sein, ich weiß es, während ich zwischen entblätterten Aposteln hinuntersehe und davon träume, bei ihr zu sein. Ihre verfluchten Eltern müssen den Brief auf ihrer Frisierkommode gefunden haben. Wünsche mir, ich wäre klüger vorgegangen. Wünsche mir, ich hätte den verdammten Betrüger erschossen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Ayrs wird nie einen Ersatz für Frobisher finden – Ewige Wiederkehr wird mit ihm sterben. Die van de Veldes müssen den zweiten Brief an Eva abgefangen haben. Habe versucht, mich heimlich in ihre Schule zu mogeln, wurde aber von zwei livrierten Schweinen mit Pfeifen und Stöcken davongejagt. Folgte E. auf dem Heimweg, doch der Tag öffnet seine Vorhänge nur so kurz, es ist kalt und dunkel, wenn sie, eingehüllt in ihr Cape, umringt von v. d. V.s, Anstandsdamen und Klassenkameradinnen, das Schulhaus verläßt. Spähte zwischen meinem Schal und der Kapuze hindurch und wartete, daß ihr Herz mich spürte. Nicht zum Lachen.
    Heute, als ich im Nieselregen in der Menge an Eva vorbeiging, berührte ich ihr Cape. E. bemerkte es nicht. Wenn ich mich ihr nähere, erklingt ein Grundton in meinen Lenden, hallt wider in der Brusthöhle und schwillt irgendwo hinter meinen Augen zum Fortissimo an.
    Warum so unruhig? Morgen vielleicht, ja, morgen, ganz bestimmt. Keine Angst. Sie hat gesagt, sie liebt mich. Bald, bald.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Le Royal Hôtel
    25-XI-1931
     
    Sixsmith,
    seit Sonntag triefende Nase und böser Husten. Paßt zu den Prellungen und Schürfwunden. Kaum vor der Tür gewesen, gar kein Verlangen danach. Eiskalter Nebel kriecht aus den Kanälen, verstopft die Lunge und läßt die Adern zufrieren. Schick mir bitte eine Wärmflasche aus Gummi, ja? Hier nur welche aus Ton.
    Hoteldirektor sah vorhin nach mir. Ein ernster, gänzlich hinternloser Pinguin. Vermute, es sind seine Lacklederschuhe, die beim Gehen so quietschen, aber in diesem Niederlande weiß man nie. In Wahrheit kam er nur vorbei, um sich zu vergewissern, daß ich tatsächlich ein reicher Architekturstudent bin und kein windiger Schuft, der die Stadt verläßt, ohne seine Rechnung zu begleichen. Versprach ihm, morgen an der Rezeption mein Geld vorzuzeigen, ein Gang zur Bank ist also unausweichlich. Das heiterte den Knaben auf, und er hoffte, daß es mit dem Studium gut vorangehe. Bestens, versicherte ich ihm. Ich sage nie, daß ich Komponist bin, weil ich die debilen Verhöre nicht mehr ertrage: «Was für Musik komponieren Sie denn?», «Ach, müßte ich Sie kennen?», «Wo bekommen Sie Ihre Einfälle her?»
    Nicht in der Stimmung zum Briefeschreiben, nicht nach meiner Begegnung mit E. Laternenanzünder macht seine Runde. Könnte ich doch die Zeit zurückdrehen, Sixsmith. Das wünsche ich mir.
     
    Nächster Tag
    Besser. Eva. Ach. Würde lachen, wenn es nicht so weh täte. Weiß nicht mehr, wo ich stehengeblieben war, als ich Dir zum letzten Mal schrieb. Seit der Nacht, in der ich meine Erscheinung hatte, ist die Zeit ein verwischtes Allegrissimo. Jedenfalls war ziemlich klar, daß ich E. nicht allein zu fassen kriegen würde. Sie tauchte nie um vier Uhr auf dem Glockenturm auf. Meine Kommuniqués waren abgefangen worden, das war die einzige Erklärung, die mir einfiel. (Keine Ahnung, ob   V. A. sein Versprechen gehalten hat, meinen

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