Der Wolkenatlas (German Edition)
fest in beide Hände. Eine intime Geste, wie ich jetzt erkenne. Schnappte den Namen ihres Kavaliers aus dem Mund eines Freundes auf, der ihn davon abhielt, mich zu verprügeln: Grigoire. Die Blase Eifersucht in meinem Bauch hatte einen Namen. Ich fragte Eva, wer ihr furchterregender Schoßhund sei. «Mein Verlobter», antwortete sie ruhig, «und er ist kein Belgier, sondern Schweizer.»
«Ihr was ?» Die Blase platzte, Gift schoß in meine Adern.
«Ich habe Ihnen doch von ihm erzählt, neulich auf dem Glockenturm! Warum ich so überglücklich war, als ich aus der Schweiz zurückkam … Ich habe es Ihnen erzählt, aber dann haben Sie mich mit diesen … schrecklichen Briefen gedemütigt.» Klare Worte, aus ihrem Mund, aus meiner Feder. Grigoire, der Verlobte . Eine Horde Kannibalen labte sich an meiner Würde. Vorbei. Meine leidenschaftliche Liebe? Es gab keine. Nie. Der unsichtbare Posaunist verhunzte Ode an die Freude . Brüllte mit urgewaltiger Lautstärke – bekam Halsschmerzen davon –, er solle sie gefälligst in der von Beethoven vorgesehenen Tonart spielen oder es ganz seinlassen. Fragte: «Schweizer? Warum ist er dann so aggressiv?» Der Posaunist stimmte schwülstig Beethovens 5. an, wieder in der falschen Tonart. E.s Stimme war nur ein schwacher Hauch. «Ich glaube, Sie sind krank, Robert. Es ist besser, wenn Sie jetzt gehen.» Grigoire, der schweizerische Verlobte, und der Butler packten meine widerstandslosen Schultern und beförderten mich rückwärts durch die Herde zur Tür. Hoch, hoch über mir erblickte ich zwei kleine v. d. V.s, die durch das Treppengeländer spähten wie mit Nachtmützen bekleidete Wasserspeier. Zwinkerte ihnen zu.
Das siegessichere Funkeln in den hübschen, langwimprigen Augen meines Nebenbuhlers und sein nachdrückliches «Scheren Sie sich zurück nach England!» weckten, ich muß es leider sagen, in Frobisher den Schweinehund. Als sie mich zur Tür hinausbeförderten, packte ich Grigoire mit einem Rugbygriff, wild entschlossen, den blasierten Kakadu mit mir zu nehmen. In der Diele kreischten Paradiesvögel, Paviane brüllten. Wir stolperten, nein, schlitterten, rumpelten, polterten fluchend und aufeinander einschlagend die Stufen hinunter. Grigoire schrie auf, erst vor Schreck, dann vor Schmerz – Dr. Rache verschreibt immer noch die beste Medizin! Holte mir auf den steinernen Stufen und dem vereisten Pflaster ebenso viele blaue Flecke wie er, stieß mir ebenso heftig Ellbogen und Hüften, aber wenigstens war ich nicht der einzige in Brügge mit einem verdorbenen Abend, und bevor ich mit verknackstem Fuß ½ rennend, ½ humpelnd die Flucht ergriff, schrie ich, begleitet von drei heftigen Tritten in seine Rippen: «Liebe ist Schmerz!»
Meine Gemütslage hat sich gebessert. Erinnere mich kaum noch, wie E. aussieht. Früher war ihr Gesicht in meine verblendeten Augen eingebrannt, sah sie überall, in jedem. Grigoire hat vorzügliche Finger, lang und geschmeidig. Schumann machte seine Hände kaputt, indem er sie mit Gewichten behängte. Auf diese Weise hatte er seine Virtuosität auf dem Klavier erweitern wollen. Grandiose Streichquartette, aber was für ein Vollidiot! Grigoire ist hingegen mit zwar vollkommenen Händen auf die Welt gekommen, kann aber vermutlich eine Fuge nicht von einer Fuge unterscheiden.
Sechs oder sieben Tage später
Hatte diesen unbeendeten Brief ganz vergessen, na ja, ½ vergessen, war versehentlich zwischen meine Klaviernoten gerutscht und ich zu sehr mit Komponieren beschäftigt, um ihn wieder auszugraben. Eisiges Winterwetter. Die Hälfte aller Uhren in Brügge ist festgefroren. So, jetzt weißt Du über Eva Bescheid. Die ganze Sache hat mich innerlich ausgehöhlt, doch was erklingt in Hohlräumen? Musik, Sixsmith, es werde Musik, und siehe da, gestern nacht saß ich am warmen Kamin und schrieb, inspiriert von Ode an die Freude , in nur sechs Stunden die ersten 102 Takte eines Trauermarsches für meine Klarinette.
Heute morgen schon wieder Besuch; so begehrt war ich seit jenem berüchtigten Tag beim Derby nicht mehr. Wurde gegen Mittag von einem freundlichen, aber bestimmten Klopf-klopf-klopf geweckt. «Wer ist da?» rief ich.
«Verplancke.»
Konnte den Namen nicht zuordnen, doch als ich die Tür öffnete, stand da der musikalische Polizist, der mir in meinem alten Leben das Fahrrad geliehen hatte. «Darf ich eintreten? Je pensais vous rendre une visite de courtoisie.»
«Aber sicher», antwortete ich und fügte geistreich hinzu:
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