Der Wolkenatlas (German Edition)
«Voilà qui est bien courtois, pour un policier.» Räumte einen Sessel für ihn frei und und bot ihm an, nach Tee zu läuten, aber mein Besucher lehnte ab. Konnte seine Überraschung über die Unordnung kaum verbergen. Erklärte ihm, ich würde die Zimmermädchen fürs Wegbleiben bezahlen, da ich es nicht leiden könne, wenn Fremde meine Noten anfaßten. M. Verplancke nickte verständnisvoll, dann fragte er erstaunt, warum ein feiner Herr unter Pseudonym im Le Royal absteige. Eine Überspanntheit, antwortete ich, die ich von meinem Vater geerbt hätte, einer bekannten Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, die ihr Privatleben gern privat halte. Ich selbst würde meinen Beruf ähnlich geheimhalten, damit mich niemand nötigen könne, während der Cocktailstunde auf dem Klavier zu klimpern. Eine Weigerung errege immer Anstoß. V. schien zufrieden mit meiner Erklärung. «Der Luxus eines zweiten Zuhauses.» Er blickte sich in meinem Wohnzimmer um. «Ich wußte gar nicht, daß ein Sekretär so gut verdient.» Gab zu, was der taktvolle Knabe sicher längst wußte: Ja, Ayrs und ich hätten uns getrennt – erwähnte allerdings rasch, daß ich über ein unabhängiges Einkommen verfügte, was vor 12 Monaten sogar der Wahrheit entsprochen hätte. «Ach, ein radfahrender Millionär?» Er lächelte. Ganz schön hartnäckig, was? Kein Millionär, erwiderte ich lächelnd, aber glücklicherweise bedeutend genug, um mir das Le Royal leisten zu können.
Schließlich kam er zur Sache. «Sie haben sich während Ihres kurzen Aufenthalts in unserer Stadt einen einflußreichen Feind gemacht, M. Frobisher. Ein gewisser Fabrikant, ich glaube, wir wissen beide, wen ich meine, hat sich bei meinem Vorgesetzten über einen Vorfall beschwert, der sich vor einigen Tagen ereignete. Seine Sekretärin – übrigens eine hervorragende Cembalistin in unserem kleinen Ensemble – erkannte Ihren Namen und leitete die Beschwerde an mich weiter. Und hier bin ich.» Versicherte ihm eindringlich, es handle sich bloß um ein absurdes Mißverständnis, die Zuneigung einer jungen Dame betreffend. Der reizende Kerl nickte. «Ich weiß, ich weiß. Cherchez la femme. In der Jugend spielt das Herz più fortissimo als der Verstand. Das Problem ist nur, daß der Vater des jungen Mannes der Bankier einiger unserer einflußreichen Bürger ist und nun auf sehr unangenehme Weise damit droht, Sie wegen Körperverletzung anzuzeigen.»
Dankte M. Verplancke für die Warnung und sein Taktgefühl und versprach ihm, mich in Zukunft zurückzuhalten. Leider war es damit nicht getan. «Monsieur Frobisher, finden Sie unsere Stadt im Winter nicht unerträglich kalt? Meinen Sie nicht, ein mediterranes Klima würde Ihre Muse besser inspirieren?»
Fragte ihn, ob sich der Bankier möglicherweise besänftigen ließe, wenn ich verspräche, Brügge binnen einer Woche, gleich nach der letzten Überarbeitung meines Sextetts zu verlassen. Ja, meinte V., eine solche Vereinbarung werde die Lage sicher entspannen. Also gab ich ihm mein Ehrenwort, die nötigen Vorkehrungen zu treffen.
Da nun alles geregelt war, bat mich V., ob er einen Blick auf mein Sextett werfen dürfe. Zeigte ihm die Klarinetten-Kadenz. Anfangs verunsicherten ihn die klanglichen und baulichen Besonderheiten, aber schließlich blieb er noch eine ganze Stunde und löcherte mich mit scharfsinnigen Fragen über meine ½ erfundene Notationsweise und die außergewöhnlichen Harmonien. Als wir uns verabschiedeten, überreichte er mir seine Karte, bat mich eindringlich, ihm für sein Ensemble ein druckfrisches Exemplar der Partitur zu schicken, und äußerte sein Bedauern, daß er Berufliches und Privates miteinander hatte vermischen müssen. War traurig, als er ging. Schreiben ist eine verdammt einsame Krankheit.
Du siehst also, ich muß meine letzten Tage sinnvoll nutzen. Mach Dir keine Sorgen um mich, Sixsmith, es geht mir ganz gut, bin für schwermütige Gedanken viel zu beschäftigt! Am Ende der Straße gibt es eine Matrosenschenke, wo ich, wenn mir danach wäre, Gesellschaft finden könnte (scharfe Burschen gehen dort zu jeder Tageszeit ein und aus), aber für mich zählt im Augenblick nur die Musik. Musik braust, Musik schwillt an, Musik explodiert.
Dein
R. F.
◆◆◆
Hôtel Memling, Brügge
Morgens, Viertel nach vier, 12-XII-1931
Sixsmith,
habe mir heute morgen um 5 mit V. A.s Luger in den Mund geschossen. Aber ich habe Dich gesehen, mein lieber, lieber Freund! Bin tief gerührt, weil
Weitere Kostenlose Bücher