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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Du Dich so sorgst! Gestern, bei Sonnenuntergang auf dem Glockenturm. Reiner Zufall, daß Du mich nicht zuerst entdeckt hast. War schon auf der letzten Treppe, als ich einen Mann im Profil sah, der an der Brüstung lehnte und hinaus aufs Meer blickte – erkannte Deinen schmucken Gabardinemantel, Deinen heißgeliebten Filzhut. Einen Schritt weiter hinauf, und Du hättest mich im Dunkeln kauern sehen. Du schlendertest zur Nordseite – eine Drehung in meine Richtung, und ich wäre aufgeflogen. Beobachtete Dich – eine Minute? –, bis ich weiche Knie bekam und schleunigst zurück auf die Erde floh. Sei mir nicht böse. Tausend Dank, daß Du versucht hast, mich zu finden. Bist Du mit der Kentish Queen gekommen?
    Fragen sind jetzt wohl ziemlich sinnlos, nicht?
    Es war kein Zufall, daß ich Dich zuerst sah, nicht nur. Die Welt ist ein Schattentheater, eine Oper, und Szenen wie diese sind die Glanzpunkte in ihrem Libretto. Sei nicht allzu verärgert über meine Rolle. Du würdest es nicht verstehen, ganz gleich, wie oft ich es Dir erklärte. Du bist ein brillanter Physiker, Dein Freund Rutherford u.   a. sind sich einig, daß eine brillante Zukunft vor Dir liegt, und da haben sie sicher recht. Aber in manchen elementaren Dingen bist Du eine Niete. Die Gesunden können die Entleerten, die Gebrochenen nicht verstehen. Du würdest mir lediglich die Gründe aufzählen, warum sich das Leben lohnt, aber die habe ich alle im Frühsommer am Victoria-Bahnhof zurückgelassen. Ich schlich mich von dem Belvedere, weil Du Dir keine Vorwürfe machen sollst, daß Du mich nicht abhalten konntest. Vielleicht machst Du Dir trotzdem welche, aber sei kein Esel, Sixsmith, laß es sein.
    Hoffe auch, Du warst nicht allzu enttäuscht, mich nicht mehr im Le Royal vorzufinden. Der Hoteldirektor bekam Wind von M. Verplanckes Besuch. Er müsse mich leider bitten zu gehen, sagte er, alle Zimmer seien reserviert. Mumpitz, aber ich nahm das Feigenblatt an. Frobisher der Fiesling wollte einen Wutanfall, aber Frobisher der Komponist wollte in Frieden sein Sextett beenden. Bezahlte die volle Rechnung – futsch war das letzte Geld von Jansch – und packte meine Reisetasche. Ging durch schiefe Gassen, überquerte zugefrorene Kanäle, bis ich auf diese verlassen wirkende Karawanserei stieß. Rezeption ein selten besetztes Eckchen unter der Treppe. Einziger Schmuck in meinem Zimmer ein monströser Lachender Kavalier, zu häßlich, um ihn zu stehlen und zu verkaufen. Von meinem verdreckten Fenster aus sieht man die alte verfallene Windmühle, auf deren Treppe ich an meinem allerersten Morgen in Brügge eingenickt war. Genau dieselbe. Stell Dir das vor. Wir drehen uns im Kreis.
    Wußte immer, daß ich meinen 25. Geburtstag nicht erleben werde. Ausnahmsweise bin ich mal zu früh dran. All die Liebeskranken, Hilfeschreienden und sentimentalen Tragöden, die den Selbstmord in Verruf bringen, sind Schwachköpfe, die ihn überstürzen wie stümperhafte Dirigenten. Ein richtiger Selbstmord ist eine rhythmisch ausgewogene, mit Disziplin ausgeführte Gewißheit. Die Leute dozieren: «Selbstmord ist egoistisch.» Ehrsüchtige Geistliche wie Pater gehen noch einen Schritt weiter und bezeichnen ihn als feigen Angriff auf die Lebenden. Banausen vertreten dieses Scheinargument aus unterschiedlichen Gründen: um Schuldzuweisungen zu entgehen, ihr Publikum mit seelischer Stärke zu beeindrucken, ihrem Ärger Luft zu machen oder weil ihnen zur Anteilnahme einfach das nötige Leiden fehlt. Mit Feigheit hat das nichts zu tun – ein Selbstmord erfordert erheblichen Mut. Die Japaner haben das begriffen. Nein, egoistisch ist, von einem Menschen zu verlangen, daß er sein unerträgliches Leben fortsetzt, damit Familienangehörige, Freunde und Feinde nicht ihr Gewissen prüfen müssen. Das einzig Egoistische dabei ist, daß man fremden Leuten den Tag verdirbt, indem man sie zu unfreiwilligen Zeugen einer Groteske macht. Deshalb werde ich mir aus Handtüchern einen dicken Turban wickeln, der den Schuß dämpft und das Blut aufsaugt, und es in der Badewanne tun, damit es keine Flecken auf dem Teppich gibt. Gestern abend schob ich dem Hoteldirektor einen Brief unter die Tür – er wird ihn morgen früh um acht finden –, der ihn über meinen Daseinswandel in Kenntnis setzt, mit etwas Glück bleibt einem unschuldigen Zimmermädchen also ein unerfreulicher Anblick erspart. Siehst Du, ich denke sehr wohl an die kleinen Leute.
    Laß nicht zu, daß sie sagen, ich hätte mich aus

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