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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Vorboten nahe gelegener Inseln zu bestätigen, rief der Mann am Handloth eine Tiefe von nur achtzehn Faden aus. Mr.   Boerhaave gab den Befehl aus, den Anker zu werfen, damit wir in der Nacht nicht auf ein Riff getrieben würden.
    Das Weiße in meinen Augen hat eine citronengelbe Färbung angenommen, u. die Ränder sind gerötet u. entzündet. Henry versichert mir zwar, dieses Symptom sei ein gutes Zeichen, doch hat er meiner Bitte um eine höhere Dosis des Wurmmittels nachgegeben.
     
    Sonntag, 8. December ~
     
    Da der Sonntag auf der Prophetess nicht geheiligt wird, beschlossen Henry u. ich heute morgen, in seiner Kajüte eine kurze Bibellesung nach Art der Gemeinde von Ocean Bay abzuhalten, genau zwischen der Morgen- u. der Vormittagswache, um sowohl der Steuerbord- als auch der Backbordschicht die Theilnahme zu ermöglichen. Obgleich ich mit Bedauern notieren muß, daß aus beiden Schichten niemand wagte, durch sein Erscheinen das Mißfallen des Ersten Officiers zu erregen, werden wir in unseren Bemühungen unverdrossen fortfahren. Rafael saß oben im Mastkorb u. unterbrach unsere Gebete mit einem dreifachen «Land in Sicht! Ahoiii!».
    Wir beendeten unseren Gottesdienst vorzeitig u. trutzten der sprühenden Gischt, um zu beobachten, wie am schaukelnden Horizont Land in Sicht kam. «Raiatea», erklärte uns Mr.   Roderick, «eine der Gesellschafts-Inseln.» (Erneut kreuzt die Prophetess das Kielwasser der Endeavour . Cpt. Cook persönlich verlieh dieser Inselgruppe den Namen.) Ich frug, ob wir ausschiffen würden. Mr.   Roderick bestätigte: «Der Capitain will einer der Missionen einen Besuch abstatten.» Die Inseln ragten vor uns auf, u. nach drei Wochen Oceangrau u. strahlendem Blau frohlockten unsere Augen beim Anblick der moosgrünen Berge, glitzernden Wasserfälle u. des lärmdurchtosten Dschungels. Die Prophetess declarierte fünfzehn Faden unter dem Kiel, doch das Wasser war so klar, daß schillernde Corallen zu erkennen waren. Ich erörterte gerade mit Henry, auf welchem Wege wir Cpt. Molyneux zu der Erlaubnis bewegen könnten, uns an Land zu lassen, als der Genannte mit frisch gestutztem Barte u. gefetteter Stirnlocke aus dem Kartenhause trat. Statt uns mit Nichtachtung zu begegnen, wie es sonst seine Gewohnheit ist, schritt er mit dem freundlichen Lächeln eines Taschendiebes geradewegs auf uns zu. «Mr.   Ewing, Doctor Goose, möchten Sie den Ersten Officier u. mich heute morgen auf jene Insel dort begleiten? In einer Bucht an der Nordküste liegt eine Methodistensiedlung, ‹Nazareth› geheißen. Männer mit Forscherdrang werden dort sicher Zerstreuung finden.» Henry nahm begeistert an, u. auch ich versagte meine Zustimmung nicht, obgleich ich den Beweggründen des alten Waschbären mißtraute. «Abgemacht», verkündete der Capitain.
    Eine Stunde später verholte die Prophetess in die Bethlehem Bay, eine schwarzsandige, kleine Bucht, durch Cap Nazareth vor Passatwinden geschützt. In unmittelbarer Nähe zum Ufer erhob sich eine Gruppe auf «Stelzen» errichteter, primitiv gedeckter Behausungen, welche (wie ich richtig vermuthete) von getauften Indern bewohnt wurden. Oberhalb dieser Hütten standen ein Dutzend von civilisierten Kräften erbaute Holzhäuser u. noch höher, fast auf der Hügelspitze, gekennzeichnet durch ein schlichtes, weißes Kreuz, eine stolze Kirche. Uns zuliebe wurde das größere der Beiboote zu Wasser gelassen. Guernsey, Krummnagel u. zwei Strumpfbandnattern saßen an den Rudern. Mr.   Boerhaave trug einen Huth u. eine Weste, beides besser für einen Salon in Manhattan geeignet denn für eine Fahrt durch die Brandung. Kräftig durchnäßt, ansonsten aber unbeschadet, erreichten wir den Strand, doch der einzige Abgesandte der Colonisten war ein polynesischer Hund, der hechelnd unter goldenem Jasmin u. zinnoberroten Trompetenblumen lag. Die Uferhütten u. die sich hinauf zur Kirche schlängelnde «Hauptstraße» waren menschenleer. «Zwanzig Mann, zwanzig Musketen», commentierte Mr.   Boerhaave, «u. bis Mittag gehört das Kaff uns. Das macht stutzig, was, Sir?» Cpt. Molyneux wies die Ruderer an, im Schatten zu warten, während wir «dem König in seinem Contore» unsere Aufwartung machten. Mein Argwohn, das plötzliche Wohlwollen des Capitains sei nur von oberflächlicher Natur, wurde bestätigt, als er den Handelsposten verschlossen vorfand u. einen scharfen Fluch ausstieß. «Könnte es sein», muthmaßte der Holländer, «daß die Nigger rückfällig geworden sind

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