Der Wolkenatlas (German Edition)
u. ihre Hirten zum Nachtisch verspeist haben?»
Eine Glocke läutete vom Kirchturme her, u. der Capitain schlug sich an die Stirn. «Ver—, wo bin ich mit meinen Gedanken? Es ist Sonntag, bei G—, u. diese frommen S—r werden in ihrer rachitischen Kirche Lieder schmettern!» Wir erklommen, behindert durch Cpt. Molyneux’ Gicht, langsam den steilen Hügel. (Bei jeder Anstrengung befällt mich eine lähmende Kurzatmigkeit. Wenn ich mir ins Gedächtnis zurückrufe, wie kräftig ich noch auf den Chathams war, quält mich, wie sehr der Parasit meine Constitution beeinträchtigt.) Wir erreichten Nazareths Gotteshaus just in dem Augenblicke, als die Gemeinde vor die Thür trat.
Der Capitain lüftete seinen Huth u. rief mit gewaltiger Stimme: «Gott zum Gruße! Jonathan Molyneux, Capitain der Prophetess. » Mit einem Schwenken seiner Kopfbedeckung deutete er hinunter zu unserem Schiff in der Bucht. Die Nazarener zeigten sich weniger überschwenglich; die Männer bedachten uns mit argwöhnischem Nicken, ihre Frauen u. Töchter verbargen sich hinter ihren Fächern. Der Ruf «Holt Prediger Horrox!» hallte durch das Innere des Gotteshauses, während nun die eingeborenen Kirchgänger nach draußen strömten, um die Besucher in Augenschein zu nehmen. Ich zählte mehr als sechzig erwachsene Männer u. Frauen, darunter rund ein Drittel Weiße, gekleidet in ihren «Sonntagsstaat» (so gut dies in Anbetracht einer zweiwöchigen Reise zum nächsten Schneider möglich war). Die Schwarzen beobachteten uns mit unverhohlener Neugierde. Die Frauen waren ehrbar gekleidet, aber nicht wenige durch einen Kropf verunstaltet. Einige Jungen, die ihre hellhäutigen Herrinnen mit Palmwedeln vor der brennenden Sonne schützten, lächelten still in sich hinein. Eine «Kolonne» Polynesier trug als Zeichen ihres Auserwähltseins ein schmuckes braunes Schulterband, bestickt mit einem weißen Crucifix.
Dann trat ein kugelrunder Mann aus der Kirche, dessen kirchliches Gewand auf prunkvolle Weise seinen Beruf auswies. «Ich», verkündete der Patriarch, «bin Giles Horrox, Prediger von Bethlehem Bay u. Vertreter der Londoner Missionsgesellschaft auf Raiatea. Bringen Sie Ihr Anliegen vor, meine Herren, u. bitte in aller Kürze.»
Cpt. Molyneux erweiterte nun seine Vorstellungsansprache um Mr. Boerhaave «von der holländischen reformierten Kirche», Dr. Henry Goose, «Arzt der Londoner vornehmen Gesellschaft u. ehemalig in der Fidschi-Mission thätig», sowie Mr. Adam Ewing, «amerikanischer Notar für Testamente u. Rechtsfragen». ( Nun durchschaute ich das Spiel des Gauners!) «Über Prediger Horrox u. die Bethlehem Bay wird von uns frommen Wanderern im Südpacifik mit großem Respekt gesprochen. Wir hatten gehofft, den Sonntag vor ihrem Altare begehen zu können», der Capitain blickte wehmüthig auf die Kirche, «aber leider haben Gegenwinde unsere Ankunft verzögert. Darf ich zumindest darauf hoffen, daß Ihr Klingelbeutel noch nicht weggeschlossen ist?»
Prediger Horrox unterzog unseren Capitain einem prüfenden Blicke. «Befehligen Sie ein gottesfürchtiges Schiff, Sir?»
Capitain Molyneux schlug in gespielter Demuth die Augen nieder. «Weder so gottesfürchtig noch so unsinkbar wie Ihre Kirche, Sir, aber ja, Mr. Boerhaave u. ich thun für die Seelen in unserer Obhuth, was in unseren Kräften steht. Es ist ein niemals endender Kampf, das muß ich leider zugeben. Seeleute fallen zurück in ihr zügelloses Treiben, sobald man ihnen den Rücken zuwendet.»
«Oh, aber, Capitain», sagte eine Dame mit einem Spitzenkragen, «auch wir in Nazareth haben unsere Rückfälligen! Sie müssen die Vorsicht meines Mannes entschuldigen. Die Erfahrung lehrt uns, daß die meisten Schiffe unter sogenannter christlicher Flagge uns nichts als Krankheiten u. Trunkenbolde bringen. Wir sind genöthigt, Schuld zu unterstellen, bis die Unschuld erwiesen ist.»
Der Capitain verbeugte sich ein weiteres Mal. «Madam, ich kann nicht eine Entschuldigung annehmen, wo weder eine Kränkung ausgesprochen noch empfangen wurde.»
«Ihr Vorurtheil gegen die ‹Vandalen zur See› ist vollauf berechtigt, Mrs. Horrox», fiel Mr. Boerhaave in den Wortwechsel ein, «aber ich dulde nicht einen Tropfen Grog an Bord der Prophetess , sosehr die Männer auch brüllen! Ach, u. brüllen können sie, aber ich brülle zurück: ‹Der einzige Geist, den ihr braucht, ist der Heilige Geist!›, u. ich brülle lauter u. länger!»
Die Farce zeigte die erwünschte Wirkung.
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