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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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schickte ihn auf Veranlassung von Prediger Horrox hierher, damit er eine Witwe aus Nazareth, Eliza, geborene Mapple, ehelichte u. ihrem Sohne, Daniel, ein Vater sei. Letzten Mai traf er auf der Insel ein.
    Es sei doch ein großes Glück, in einem solchen Paradiese zu leben, erklärte ich, doch meine höfliche Bemerkung versetzte der Stimmung des jungen Mannes einen Stich. «So dachte ich in den ersten Tagen auch, Sir, aber nun weiß ich nicht so recht. Das Paradies ist ein blitzsaubrer Ort, aber hier ist alles Leben wild u. kratzt u. beißt. Ein zu Gott bekehrter Heide ist eine gerettete Seele, das weiß ich, aber die Sonne hört niemals auf zu brennen, u. die See u. die Steine glitzern so grell, daß meine Augen schmerzen, bis die Dämmerung hereinbricht. Es giebt Zeiten, da würde ich für einen Nordseenebel alles geben. In Wahrheit, Mr.   Ewing, belastet dieser Ort unsere Seelen. Meine Frau ist schon auf dieser Insel, seit sie ein kleines Mädchen war, aber das erleichtert ihr das Leben hier keineswegs. Man möchte meinen, die Wilden wären uns dankbar, schließlich unterrichten wir sie, heilen sie, geben ihnen Arbeit u. das ewige Leben! Oh, sie sagen recht freundlich ‹Bitte, Sir› u. ‹Danke, Sir›, aber hier drin», Wagstaff klopfte sich an die Brust, «ist davon nichts zu spüren . Ja, es mag wie das Paradies erscheinen, aber Raiatea ist ein verworfener Ort wie alle anderen, ja, zwar giebt es keine Schlangen, aber der Teufel betreibt sein Gewerbe hier ebenso eifrig wie überall. Die Ameisen! Ameisen kommen überallhin. In Ihre Speisen, Ihre Kleidung, sogar in Ihre Nase. Solange wir nicht auch die verwünschten Ameisen bekehrt haben, wird diese Insel niemals wirklich uns gehören.»
    Wir gelangten zu seiner bescheidenen Behausung, errichtet vom ersten Gatten seiner Frau. Mr.   Wagstaff bat mich nicht hinein, sondern verschwand eilig im Hause, um eine Wasserflasche für unseren Spaziergang zu holen. Ich machte ein paar Schritte um den einfachen Vordergarten, wo ein schwarzer Gärtner Unkrauth jätete. Ich frug, was er denn anbaue.
    «David ist stumm», rief eine Frau in einem lose hängenden, schmuddeligen Kittel von der Hausthüre aus. Zu meinem Leidwesen kann ich ihr Äußeres u. ihr Benehmen nur als schlampig bezeichnen. «Sie sind wohl der englische Arzt, der bei den Horrox wohnt?»
    Ich erwiderte, ich sei ein amerikanischer Notar, u. frug, ob ich es mit Mrs.   Wagstaff zu thun hätte.
    «So steht es in meinem Heirathsaufgebot u. auf meinem Trauschein, ja.»
    Ich erzählte ihr, daß Doctor Goose, falls sie ihn zu consultieren wünsche, im Hause der Horrox eigens eine Praxis eingerichtet habe, u. beteuerte, daß Henry ein vorzüglicher Arzt sei.
    «So vorzüglich, um mich von hier fortzuzaubern, mir all die Jahre wiederzugeben, die ich hier vergeudet habe, u. mich in London mit einer Rente von dreihundert Pfund im Jahr zu versorgen?»
    Ein solcher Wunsch übersteige das Vermögen meines Freundes, räumte ich ein.
    «Dann kann Ihr vorzüglicher Arzt nichts für mich thun, Sir.»
    Aus den Büschen hinter mir drang Kichern; ich drehte mich um u. erblickte eine Horde kleiner Schwarzer. (Es ist bemerkenswert, wie viele Nachkommen gemischtrassiger Verbindungen hellhäuthig sind.) Ohne den Kindern Beachtung zu schenken, wandte ich mich wieder um, als ein weißer Junge von zwölf oder dreizehn Jahren (ebenso schmuddelig wie seine Mutter) an Mrs.   Wagstaff, die keinerlei Versuch unternahm, ihn aufzuhalten, vorbeischlüpfte. Er tollte so spärlich bekleidet umher wie seine eingeborenen Spielgefährten! «Halt, junger Freund», tadelte ich ihn, «bekommst du keinen Sonnenstich, wenn du so herumläufst?» In den blauen Augen des Knaben lag ein wildes Funkeln, u. seine Antwort, in polynesischer Sprache ausgestoßen, verblüffte mich ebenso sehr, wie sie die Negerbengel, die auseinanderstoben wie ein Schwarm Grünfinken, amusierte.
    Mr.   Wagstaff lief dem Knaben aufgebracht hinterher. «Daniel! Komm zurück! Daniel! Ich weiß, daß du mich hörst! Ich werde dir eins überziehen! Hörst du? Ich werde dir eins überziehen!» Er kehrte zu seiner Frau zurück. « Mrs . Wagstaff! Willst du, daß dein Sohn zu einem Wilden heranwächst? Sorge wenigstens dafür, daß der Junge Kleider trägt! Was soll Mr.   Ewing denken?»
    Mrs.   Wagstaffs Verachtung für ihren jungen Gatten hätte sich, in Flaschen abgefüllt, als Rattengift verkaufen lassen. «Mr.   Ewing soll sich denken, was er will. Morgen wird er mit seinem

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