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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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hinauf, u. ich hatte einen herrlichen Blick auf die Prophetess , für einen geübten Schwimmer nur wenige Züge entfernt. (Finbar leerte einen Bottich über Bord, u. oben auf dem Fockmast holte Autuas schwarze Silhouette das Skysegel ein.)
    Ich erkundigte mich nach dem Ursprunge u. dem Sinn der Maraes, u. Mr.   Wagstaff gab mir in aller Kürze Auskunft: «Noch vor einer Generation boten die Inder auf diesen Steinen ihren falschen Götzen mit Geschrei u. Blutvergießen ihre Opfer dar.» Meine Gedanken schweiften zurück zu dem Strand der Festgelage auf der Chatham-Insel. «Jetzt verpaßt die Garde Christi jedem Schwarzen, der sich an diesen Ort wagt, eine ordentliche Tracht Prügel. Das heißt, sie würde es tun. Denn die Kinder der Eingeborenen kennen nicht einmal mehr die Namen dieser alten Götzen. Jetzt giebt es hier nur noch Schutt u. Rattennester. Das wird aus allem Glauben eines Tages: Schutt u. Rattennester.»
    Die Plumeriablüten umfingen mich mit ihrem Wohlgeruch.
     
    Meine Nachbarin bei Tische war Mrs.   Derbyshire, eine Witwe hoch im sechsten Lebensjahrzehnte, so hart u. bitter wie eine grüne Eichel. «Ich bekenne meine Abneigung gegenüber Amerikanern», erklärte sie mir. «Sie brachten im Kriege von 1812 meinen geschätzten Onkel Samuel ums Leben, einen Oberst der Königlichen Artillerie.» Ich sprach ihr mein (nicht erwünschtes) Beileid aus, fügte aber hinzu, daß, obgleich mein eigner geschätzter Vater im selbigen Kriege von den Engländern umgebracht worden sei, einige meiner besten Freunde Briten seien. Der Doctor lachte übermäßig laut u. brüllte «Hurra, Ewing!».
    Mrs.   Horrox ergriff das Ruder, ehe die Unterhaltung auf ein Riff lief. «Ihre Auftraggeber, Mr.   Ewing, erweisen Ihren Fähigkeiten großes Zutrauen, indem sie Sie mit Geschäften betrauen, die eine so lange, beschwerliche Reise erfordern.» Ich erwiderte, ich sei als Notar zwar alt genug, um mit meiner gegenwärthigen Aufgabe betraut zu werden, aber auch jung genug, um zur Übernahme selbiger verpflichtet zu sein. Verständnißvolles Glucksen belohnte meine Bescheidenheit.
    Nachdem Prediger Horrox über den Terrinen mit Schildkrötensuppe das Tischgebet gesprochen u. für seine neue Geschäftsverbindung mit Cpt. Molyneux Gottes Segen erbeten hatte, hielt er, während wir anderen aßen, einen Vortrag über ein innig geliebtes Thema. «Von jeher ist es mein unbeirrbarer Glaube gewesen, daß Gott sich in unserer civilisierten Welt nicht in den Wundern aus biblischen Zeiten offenbart, sondern im Fortschritte. Der Fortschritt ist es, welcher die Menschheit die Leiter hinauf zu Gott führt. Es ist keine Jacobsleiter, nein, eher eine ‹Civilisations-Leiter›, wenn Sie so wollen. Ganz oben auf der Leiter, über allen anderen Rassen, stehen die Angelsachsen. Die Romanen stehen ein, zwei Stufen darunter. Noch tiefer die Asiaten – eine arbeitsame Rasse, wie niemand bezweifeln kann, doch fehlt ihr unsere arische Tapferkeit. Sinologen verweisen darauf, daß sie einstmals zur Größe strebten, aber wo, bitte sehr, ist der gelbhäutige Shakespeare, der mandeläugige da Vinci? Mehr braucht dazu nicht gesagt werden. Weiter unten finden wir die Neger. Die Gutmüthigen unter ihnen können angelernt werden, gewinnbringend zu arbeiten, aber die Aufsässigen sind der leibhaftige Satan! Der amerikanische Indianer ist ebenfalls fähig, in den californischen barrios nützliche Arbeit zu verrichten, so ist es doch, oder, Mr.   Ewing?»
    Ich stimmte zu.
    «Nun zu unseren Polynesiern. Besucher Tahitis, Hawaiis oder auch Bethlehems werden dem beipflichten, daß die Eingeborenen der Pacifik-Inseln, sofern sie sorgfältig unterwiesen werden, das ‹A-B-C› des Lesens u. Schreibens, des Rechnens u. der Frömmigkeit erlernen, wodurch sie die Stufe der Neger überschreiten u. sich, was den Fleiß angeht, mit den Asiaten messen können.»
    Henry unterbrach ihn, um anzumerken, daß die Maori es im Bereiche des Handels, der Diplomatie u. des Colonialismus bis zum «D-E-F» gebracht hätten.
    «Das belegt nur meinen Standpunkt. Zum Schluß u. zuunterst kommen jene ‹kulturunfähigen Rassen›, nämlich die australischen Ureinwohner, die Patagonier, zahlreiche africanische Völker u. so weiter, welche, gerade einmal eine Stufe über den Menschenaffen stehend, so widerspenstig gegenüber dem Fortschritte sind, daß für sie, wie einst für die Mastodonten u. die Mammute, ihr alsbaldiger ‹Sturz von der Leiter› noch die günstigste Aussicht darstellt

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