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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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– ein Schicksal, das sie mit ihren Vettern, den Guanchen u. Tasmaniern, theilen werden.»
    «Sie meinen», Cpt. Molyneux schob seinen Suppenteller von sich, «sie werden aussterben?»
    «So ist es, Capitain, so ist es. Die Gesetze der Natur u. der Fortschritt wirken Hand in Hand. Unser Jahrhundert wird Zeuge davon werden, wie die Stämme der Menschheit die Prophezeiungen erfüllen, welche in ihre rassischen Merkmale eingetragen sind. Die Überlegenen werden die Übervölkerung an Wilden auf ihre natürliche Zahl decimieren. Das mag zu wenig schönen Scenen führen, aber Männer mit couragiertem Geiste dürfen davor nicht zurückschrecken. Wenn alle Rassen ihren Platz auf Gottes Civilisations-Leiter kennen u. ihn bereitwillig annehmen, ja, dann wird eine wunderbare Ordnung in die Welt eintreten. Bethlehem Bay offenbart bereits einen Schimmer der kommenden Morgenröthe.»
    «Fürwahr, Prediger», sagte Cpt. Molyneux. Ein Mr.   Gosling (verlobt mit Prediger Horrox’ ältester Tochter) rang die Hände in salbungsvoller Bewunderung. «Verzeihen Sie mir die Anmaßung, Sir, aber es erschiene mir fast als ein … jawohl, ein Frevel, Ihren Leitsatz unveröffentlicht zu lassen, Sir. ‹Die Horroxsche Civilisations-Leiter› würde der Royal Society ein Licht aufsetzen!»
    «Nein, Mr.   Gosling», erwiderte Prediger Horrox, «mein Platz ist hier. Der Pacifik muß sich einen neuen Descartes, einen neuen Cuvier selbst suchen.»
    «Sehr weise von Ihnen, Prediger», Henry erschlug ein umherschwirrendes Insect u. untersuchte dessen Überreste, «derartige Gedanken für sich zu behalten.»
    Unser Gastgeber konnte seinen Ärger nicht verhehlen. «Inwiefern dieses?»
    «Nun, eine genaue Prüfung bringt zutage, daß ein ‹Leitsatz› überflüssig ist, wo ein einfaches Gesetz genügt.»
    «Und welches Gesetz wäre das, Sir?»
    «Das erste der ‹Zwei Gooseschen Gesetze des Überlebens›. Es lautet: ‹Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken gut gerathen.›»
    «Jedoch ist Ihr ‹einfaches Gesetz› blind gegenüber einem bedeutsamen Geheimniß, nämlich: ‹Warum behaupten die weißen Rassen die Herrschaft über die Welt?›»
    Henry lud mit einem leisen Lachen eine imaginaire Muskete u. richtete den Lauf nach unten. Dann kniff er ein Auge zusammen u. erschreckte die Gesellschaft mit einem lauten «Peng! Peng! Peng!». «Sehen Sie? Habe ihn erwischt, bevor er in sein Blasrohr pusten konnte!»
    Mrs.   Derbyshire äußerte ein bestürztes «Oh!».
    Henry zuckte mit den Schultern. «Wo, bitte, ist das bedeutsame Geheimniß?»
    Prediger Horrox hatte seine gute Laune verloren. «Sie unterstellen also, daß die weißen Rassen die Erde nicht mit Gottes Gnade beherrschen, sondern mit dem Gewehre? Aber eine solche Behauptung bezeichnet dasselbe Wunder, bloß in neuem Gewande! Wie kam das Gewehr zum weißen Manne u. nicht, sagen wir, zum Eskimo oder dem Pygmäen, wenn nicht durch den erhabenen Willen des Allmächtigen?»
    «Unsere Waffen sind uns nicht eines Morgens in den Schoß gefallen», erwiderte Henry. «Sie sind nicht das Manna vom Himmel Sinais. Seit der Schlacht von Agincourt hat der weiße Mann die Kunst der Schießpulverherstellung weiterentwickelt u. verfeinert, bis unsere modernen Armeen Gewehre zu Zehntausenden ins Feld führen konnten! ‹Aha›, werden Sie jetzt einwenden, ‹aber warum wir Arier? Warum nicht die Einfüßler von Ur oder die Alraunwurzeln von Mauritius?› Weil, Prediger, unter allen Rassen der Welt unser Streben – oder sagen wir besser unsere Gier – nach Schätzen, Gold, Specereyen u. Macht, ach, vor allem nach der süßen Macht, am größten, unersättlichsten u. scrupellosesten ist. Diese Gier treibt unseren Fortschritt an; ob zu einem teuflischen oder einem göttlichen Ende, weiß ich nicht. So, wie Sie es auch nicht wissen, Sir. Es kümmert mich auch nicht sonderlich. Ich bin nur dankbar, daß mein Schöpfer mich auf die Seite der Gewinner gestellt hat.»
    Henrys Freimüthigkeit wurde ihm als Unhöflichkeit ausgelegt, u. Prediger Horrox, der Napoleon seines äquatorialen Elba, lief vor Empörung scharlachrot an. Ich lobte die Suppe unserer Gastgeberin (obwohl das ersehnte Wurmmittel es mir wahrlich schwer macht, etwas anderes als sehr leichte Kost zu mir zu nehmen) u. erkundigte mich, ob die Schildkröten an hiesigen Gestaden gefangen oder von weit her importiert worden seien.
     
    Später, als wir in der drückenden Finsternis, von den Geckos belauscht, in den Betten lagen, vertraute

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