Der Wolkenatlas (German Edition)
hübschen Schoner fortsegeln u. seine Gedanken mit sich nehmen. Im Unterschied zu dir u. mir, Mr. Wagstaff, die wir hier sterben werden. Und zwar bald, wie ich zu Gott bete.» Sie wandte sich an mich: «Mein Mann hat die Schule nicht zu Ende bringen können, Sir, u. so ist es mein trauriges Los, ihm das Offenkundige zehnmal täglich vor Augen zu führen.»
Da es mir widerstrebte, der Demüthigung Mr. Wagstaffs durch seine Frau beizuwohnen, verbeugte ich mich flüchtig u. zog mich hinter den Zaun zurück. Ich vernahm, wie männliche Entrüstung von weiblichem Hohne niedergetrampelt wurde, u. richtete meine Aufmerksamkeit auf einen Vogel ganz in der Nähe, dessen Gesang in meinen Ohren so klang: Toby sagt nichts, nieee … Toby sagt nichts …
Mein Begleiter fand sich sichtlich niedergeschlagen bei mir ein. «Verzeihen Sie, Mr. Ewing, Mrs. Wagstaffs Nerven sind heute ganz fürchterlich strapaciert. Der Hitze u. der Fliegen wegen schläft sie zu wenig.» Ich versicherte ihm, daß der «ewige Nachmittag» der Südsee selbst den robustesten Gemüthern zusetze. Wir wanderten unter klebrigen Farnwedeln die von ekelhafter Fruchtbarkeit überwucherte Landzunge hinunter. Aus den Klauen der erlesenen Helikonien fielen bepelzte, daumendicke Raupen.
Der junge Mann erzählte, wie die Mission seine Familie von der untadeligen Erziehung seiner Zukünftigen überzeugt hatte. Prediger Horrox hatte sie am Tage nach seiner Ankunft in Nazareth miteinander verheirathet, als der Zauber der Tropen noch seine Augen blendete. (Warum Eliza Mapple solch einer arrangierten Verbindung zugestimmt hatte, bleibt ungewiß: Henry vermuthet, Gegend u. Klima brächten das schwächere Geschlecht aus dem Gleichgewichte u. machten es gefügig.) Die ‹Schwächen› von Mr. Wagstaffs Braut, ihr wahres Alter u. Daniels ungebärdiges Wesen, traten zutage, kaum daß ihre Unterschriften auf der Heirathsurkunde getrocknet waren. Der Stiefvater versuchte, seinen neuen Pflichten Genüge zu thun, aber dies führte, sowohl vonseiten der Mutter als auch des Stiefsohnes, zu derart ‹niederträchtigen Anschuldigungen›, daß er nicht wußte, an wen er sich wenden sollte. Statt Mr. Wagstaff Beistand zu leisten, schalt ihn Prediger Horrox einen Jammerlappen, u. in der That ist er an neun von zehn Tagen unglücklich wie Hiob. (So groß Mr. Wagstaffs Unglück sein mag, was ist es gemessen an einem parasitairen Wurm, der einem die Gehirnwindungen zernagt?)
In der Absicht, den grüblerischen jungen Mann durch zweckdienlichere Dinge zu zerstreuen, frug ich ihn, warum es in der Kirche eine solche Fülle von Bibeln gebe (welche, um ehrlich zu sein, nur von Bücherläusen gelesen wurden). «Von Rechts wegen müßte Ihnen das Prediger Horrox erzählen, in aller Kürze jedoch: Die Matavia Bay Mission war die erste, die das Wort des Herrn ins Polynesische übersetzte, u. die eingeborenen Missionare erzielten mit diesen Bibeln so viele Bekehrungen, daß Elder Whitlock – einer der Gründer von Nazareth u. inzwischen gestorben – die Mission davon überzeugte, das Experiment hier zu wiederholen. Sehen Sie, er war einst bei einem Graveur in Highgate in die Lehre gegangen. Also brachten die ersten Missionare außer Gewehren u. Werkzeugen auch eine Druckerpresse, Papier, Tintenfässer, Setzkästen u. Druckbögen mit. Binnen zehn Tagen nach der Gründung von Bethlehem Bay, noch bevor die Gärten umgegraben wurden, waren dreitausend Fibeln für die Missionsschulen gedruckt. Es folgten Nazareths Evangelien, welche das Wort des Herrn von den Gesellschafts-Inseln zu den Cook-Inseln u. weiter nach Tonga trugen. Aber jetzt ist die Presse verrostet, u. viele tausend Bibeln suchen einen Abnehmer. Was meinen Sie, warum wohl?»
Ich errieth es nicht.
«Nicht genügend Inder. Schiffe bringen Krankheitsstaub hierher, die Schwarzen atmen ihn ein, blähen sich auf u. fallen um wie Kreisel. Wir lehren die Überlebenden Monogamie u. Ehe, aber ihre Verbindungen sind nicht fruchtbar.» Unwillkürlich frug ich mich, wie viele Monate wohl vergangen seien, seit Mr. Wagstaff zum letzten Male gelächelt hatte. «Zu töten, was man ehren u. heilen soll», meinte er, «das scheint der Lauf der Dinge zu sein.»
Der Weg endete unten am Meere bei einem zerbröckelnden «Barren» aus schwarzen Corallen, etwa zwanzig Yards lang u. zwei Mann hoch. «Eine sogenannte Marae», informierte mich Mr. Wagstaff. «Wie ich hörte, findet man sie überall in der Südsee.» Wir kletterten
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