Der Wolkenatlas (German Edition)
himmelwärts starren. Bestürzung zeichnete sein Gesicht, gefolgt von Ungläubigkeit, die tiefem Grame wich. Seine Lippen formten ein Wort, aber sie brachten es nicht heraus. Er zeigte auf das, was er nicht auszusprechen vermochte.
Ein Körper baumelte dort, eine graue Gestalt, die das Segeltuch streifte. Lärm erhob sich von allen Seiten, aber wer was zu wem rief, kann ich nicht mehr wiedergeben. Rafael, erhängt, so ruhig wie ein Handloth, wenn die Prophetess stampft u. verholt. Dieser liebenswerthe Junge, leblos wie ein Schaf am Fleischerhaken! Autua war aufgeentert, aber er konnte nichts weiter thun, als den Jungen vorsichtig herabzulassen. Ich hörte, wie Guernsey brummte: «Man soll nie freitags absegeln, Freitag ist ein Unglückstag.»
In meinem Kopfe brennt die Frage: Warum? Niemand wird darüber sprechen, doch Henry, der ebenso erschüttert ist wie ich, erzählte mir, Krummnagel habe ihm im Vertrauen zu verstehen gegeben, daß Mr. Boerhaave u. seine «Strumpfbandnattern» die widernatürlichen Verbrechen Sodoms an dem Jungen verübt hätten. Nicht nur in der Weihnachtsnacht, sondern jede Nacht, viele Wochen lang.
Es ist meine Pflicht, diesem dunklen Verdacht bis zu seinen Ursprüngen nachzugehen u. die Übelthäter ihrer gerechten Strafe zuzuführen, aber, lieber Gott, ich bin kaum imstande, mich aufzusetzen u. zu essen. Henry sagt, ich dürfe mich nicht jedesmal geißeln, wenn die Unschuld der Uncivilisiertheit zum Opfer falle, aber wie könnte ich diese Sache auf sich beruhen lassen? Rafael war in Jacksons Alter. Meine Schwäche ist mir unerträglich.
Freitag, 27. December ~
Während Henry zu einem Verletzten gerufen wurde, schleppte ich mich zu Cpt. Molyneux’ Kajüte, um meine Meinung kundzutun. Er war ungehalten über die Störung, aber ich war entschlossen, sein Quartier nicht eher zu verlassen, als bis ich meine Anklage vorgebracht hätte, nämlich, daß Rafael von Boerhaaves Bande allnächtlich auf bestialische Weise gequält worden sei, bis der Junge, da er keinerlei Möglichkeit sah, verschont zu werden oder Hülfe zu erhalten, sich das Leben nahm. Schließlich frug der Capitain: «Sie verfügen selbstverständlich über Beweise für dieses Verbrechen? Einen Abschiedsbrief? Unterzeichnete Zeugenaussagen?» Jedermann an Bord wußte, daß ich die Wahrheit sprach! Dem Capitain konnte Boerhaaves Brutalität doch nicht entgangen sein! Ich verlangte eine Untersuchung darüber, welche Rolle der Erste Officier bei Rafaels Selbsttötung gespielt hatte.
«Verlangen Sie, soviel Sie wollen, Mr. Federschwanz!» brüllte Cpt. Molyneux. « Ich entscheide darüber, wer die Prophetess segelt, wer die Disciplin bewahrt, wer die Schiffsjungen ausbildet, nicht irgendein verd—r Federfuchser, nicht seine verd—n Fieberphantasien u. bei Gott nicht irgendeine verd—e ‹Untersuchung›! Raus mit Ihnen, Sir, der Teufel soll Sie holen!»
Ich that, wie mir geheißen, u. stieß sofort mit Boerhaave zusammen. Ich frug ihn, ob er mich ebenfalls mit seinen Strumpfbandnattern in seine Kajüte sperren wolle, um sodann darauf zu hoffen, daß ich mich vor dem Morgengrauen aufhängte. Er zeigte mir seine Fangzähne u. warnte mich mit von Boshaftigkeit und Haß erfüllter Stimme: «Sie umweht der Gestank der Verwesung, Federschwanz, keiner meiner Männer würde Sie anrühren, aus Furcht, sich anzustecken. Sie werden bald an Ihrem ‹leichten Fieber› crepieren.»
Notare aus den Vereinigten Staaten, warnte ich ihn schlagfertig, verschwänden nicht auf so bequeme Weise wie Schiffsjungen aus den Colonien. Ich glaube, er trug sich mit dem Gedanken, mich zu erwürgen. Aber ich bin zu schwach, um mich vor einem holländischen Sodomiten zu fürchten.
Später ~
Zweifel bedrängen mein Gewissen, u. Mitschuld lautet ihre Anklage. Habe ich Rafael die Erlaubnis ertheilt, nach der er suchte, um Selbstmord zu begehen? Hätte ich seine Verzweiflung erahnt, als er zuletzt mit mir sprach, hätte ich seine Absicht durchschaut u. erwidert: «Nein, Rafael, einen geplanten Selbstmord kann der Herr nicht vergeben, denn Reue kann nicht wahrhaftig sein, wenn sie vor dem Verbrechen einsetzt», würde der Junge jetzt vielleicht noch atmen. Henry besteht darauf, daß ich es nicht ahnen konnte, doch ausnahmsweise klingen seine Worte hohl in meinen Ohren. Ach, habe ich diese unschuldige Seele in die Hölle geschickt?
Sonnabend, 28. December ~
Eine Laterna Magica in meinem Kopfe zeigt mir, wie der Junge das
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