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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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Grausamkeiten diese «Belustigung» umfaßte.) Finbar theilte uns mit, Rafael u. Krummnagel seien die beiden «Jungfrauen». Letzterer fährt zwar schon seit zwei Jahren zur See, ist bisher jedoch nur die Strecke Sydney – Kapstadt gesegelt.
    Während der Hundewache legten die Matrosen ein Sonnensegel über das Vordeck u. versammelten sich bei der Ankerwinde, wo «König Poseidon» (Pocock, angethan mit einer lächerlichen Robe u. einer Perücke aus Feudeln) hofhielt. Die Jungfrauen waren wie zwei heilige Sebastiane an die Kranbalken gebunden. «Bauchaufschlitzer u. Federschwanz», rief Pocock aus, als er Henry u. mich erblickte. «Seid Ihr gekommen, um unsere jungfräulichen Schwestern vor meinem grindigen Einzack zu retten?» Er tanzte in vulgairer Weise mit einem Marlspieker, u. die Seeleute klatschten unter lüsternem Gejohle. Henry erwiderte lachend, er habe seine Jungfrauen lieber ohne Bart. Pococks Replique über die Bärte von jungen Maiden war zu obszön, um sie wiederzugeben.
    Seine Vermaledeite Majestät wandte sich wieder den Opfern zu. «Krummnagel aus Kapstadt, Canaille aus der Sträflingsstadt, seid ihr bereit, in den Orden der Söhne Poseidons einzutreten?» Rafael, der seinen jungenhaften Frohsinn durch das Possenspiel theilweise wiedererlangt hatte, antwortete mit einem frischen «Jawohl, Euer Lordschaft!». Krummnagel begnügte sich mit verdrießlichem Nicken. Poseidon brüllte: «Neiiiin! Nicht, bevor wir euch Bettnässern die verd—n Schuppen abrasiert haben! Bringt mir die Rasiercreme!» Torgny eilte mit einem Eimer voll Teer herbei, den er mit einer Bürste auf die Gesichter der Gefangenen strich. Dann erschien Guernsey, verkleidet als Königin Amphitrite, u. schabte den Teer mit einem Rasiermesser ab. Der Mann vom Cap stieß Verwünschungen aus, die für viel Heiterkeit u. nicht wenige «Ausrutscher» des Rasiermessers sorgten. Rafael war vernünftig genug, die Tortur schweigend zu erdulden. «Schon besser, schon besser», knurrte Poseidon, worauf er brüllte: «Verbindet beiden die Augen u. führt die junge Canaille in meinen Gerichtssaal!»
    Der «Gerichtssaal» war ein Faß mit Salzwasser, in das Rafael mit dem Kopf voran hineingetaucht wurde, während die Männer im Chore zählten. Als sie bei zwanzig angekommen waren, befahl Poseidon seinen «Höflingen», seinen neuesten Unterthan herauszufischen. Die Augenbinde wurde ihm abgenommen, u. der Junge lehnte sich gegen das Schanzkleid, um sich von den Qualen zu erholen.
    Krummnagel fügte sich weniger bereitwillig in sein Schicksal u. schrie: «Laßt mich los, ihr H—nsöhne!» König Poseidon rollte vor Entsetzen mit den Augen. «Der Stinkstiefel braucht volle vierzig im Salzwasser, Männer, oder ich bin blind!» Bei vierzig wurde der Africaander hochgezogen, wobei er schrie: «Ich bringe euch um, ihr Sauhunde, bis auf den letzten Mann, das schwöre ich euch, ich …» Zum allgemeinen Vergnügen wurde er für weitere vierzig untergetaucht. Als Poseidon die Strafe für verbüßt erklärte, drang aus Krummnagels Kehle nur noch ein röchelndes Würgen. Mr.   Boerhaave bereitete dem Unfug schließlich ein Ende, u. die frischgebackenen Söhne Poseidons säuberten ihre Gesichter mit Werg u. Kernseife.
    Finbar kicherte noch während des Essens in sich hinein. Mich hat Grausamkeit noch nie zum Lächeln gebracht.
     
    Mittwoch, 18. December ~
     
    Schuppiges Meer, kaum ein Windhauch, das Thermometer constant bei 90°Fahrenheit. Die Mannschaft hat ihre Hängematten gewaschen u. zum Trocknen aufgehängt. Meine Kopfschmerzen setzen täglich früher ein, u. Henry hat noch einmal die Dosis des Wurmmittels erhöht. Ich bete darum, daß seine Bestände sich nicht erschöpfen, bis wir vor Hawaii ankern, denn ohne Linderung würden die Schmerzen mir den Schädel zersprengen. Überdies wird mein Arzt von den Wundrosen u. Gallenkoliken der Mannschaft auf Trab gehalten.
    Heute nachmittag wurde meine unruhige Siesta jäh durch lautes Geschrei beendet. Ich ging an Deck u. sah, wie ein junger Hai gefangen u. an Bord gezogen wurde. Er wand sich noch eine Weile in seinem leuchtend roten Safte, bevor ihn Guernsey für mausetot erklärte. Seine Augen u. sein Maul gemahnten mich an Tildas Mutter. Finbar zertheilte das Thier auf dem Deck in Stücke, doch selbst ihm gelang es nicht, das saftige Fleisch in seiner Kombüse gänzlich zu verderben. Die Abergläubischeren unter den Matrosen verschmähten dieses besondere Mahl, da Haie als Menschenfresser bekannt seien,

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