Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
Vom Netzwerk:
blinden alten Ayrs ein Licht aufgegangen. «Ein heikles Thema, deshalb spucke ich es einfach aus. Jocasta. Sie ist nicht sonderlich treu. Als Ehefrau, meine ich. Freunde machen Andeutungen über ihre Abenteuer, Feinde informieren mich über Affären. Hat sie Ihnen gegenüber … jemals … Sie wissen schon?»
    Verhärtete meine Stimme auf meisterliche Weise. «Nein, Sir, ich glaube, ich weiß nicht, was Sie meinen.»
    «Verschonen Sie mich mit dem verschämten Getue, mein Junge!» Ayrs beugte sich zu mir vor. «Hat meine Frau je Annäherungsversuche Ihnen gegenüber gemacht? Ich habe ein Recht, es zu erfahren.»
    Verkniff mir mit Mühe ein nervöses Kichern. «Ich finde diese Frage äußerst geschmacklos.» Jocastas Atem befeuchtete unter den Decken meine Schenkel. Vermutlich verging sie fast vor Hitze. « Ich würde niemanden als ‹Freund› bezeichnen, der solchen Schmutz in die Welt setzt. Was Mrs.   Crommelynck betrifft, halte ich diese Vorstellung offen gesagt für gleichermaßen undenkbar wie widerwärtig. Wenn, ja wenn sie sich infolge eines, sagen wir, nervösen Zusammenbruches tatsächlich so ungehörig verhalten sollte, Ayrs, dann würde ich an Ihrer Stelle eher Dhondt um Rat bitten oder mit Dr.   Egret sprechen.» Sophisterei ist eine vortreffliche Tarnung.
    «Ich bekomme also keine klare Antwort von Ihnen?»
    «Und ob Sie die bekommen. Ein ausdrückliches Nein! Und ich hoffe sehr, das Thema ist damit beendet.»
    Ayrs ließ einen langen Augenblick verstreichen. «Sie sind jung, Frobisher, Sie sind reich, Sie haben Verstand, und nach allem, was man hört, sind Sie nicht gänzlich abstoßend. Ich wundere mich ein wenig, daß Sie noch hier sind.»
    Gut. Er wurde sentimental. «Sie sind mein Verlaine.»
    «Bin ich das, junger Rimbaud? Wo ist dann bitte Ihre saison en enfer ?»
    «Als Entwurf in meinem Schädel, in meinen Eingeweiden, Ayrs. In meiner Zukunft.»
    Konnte nicht erkennen, ob Ayrs Belustigung, Mitleid, Wehmut oder Verachtung empfand. Er ging. Schloß die Tür ab und stieg zum 3. Mal in dieser Nacht ins Bett. Schlafzimmerfarcen sind, wenn sie im wirklichen Leben passieren, zutiefst traurig. Jocasta schien zornig auf mich zu sein. «Was ist?» zischte ich.
    «Mein Mann liebt dich», sagte die Ehefrau und zog sich an.
     
    Zedelghem rührt sich. Wasserrohre machen Geräusche wie alte Tanten. Habe an meinen Großvater gedacht, dessen eigenwilliges Genie die Generation meines Vaters übersprang. Einmal zeigte er mir eine Aquatinta mit einem berühmten siamesischen Tempel. Sein Name ist mir entfallen, doch seit vor vielen hundert Jahren ein Schüler Buddhas darin predigte, hat jeder Räuberkönig, Tyrann und Monarch des Königreichs seine Schönheit gesteigert, mit marmornen Türmen, duftenden Arboreten, vergoldeten Kuppeln, reichen Deckengemälden und smaragdäugigen Statuen. Wenn einst der Tag kommt, an dem der Tempel seinem Gegenstück im Reinen Land ebenbürtig ist, wird, so erzählt man sich, die Menschheit ihren Zweck erfüllt haben, und die Zeit bleibt stehen.
    Für Männer wie Ayrs ist dieser Tempel die Zivilisation. Die breite Masse der Sklaven, Bauern und Fußsoldaten haust in den Rissen der Steinplatten, ohne sich der eigenen Unwissenheit bewußt zu sein. Anders die großen Staatsmänner, Wissenschaftler, Künstler und vor allem die Komponisten einer Epoche, jeder Epoche – sie sind die Architekten, Zimmerleute und Priester der Zivilisation. Ayrs sieht es als unsere Aufgabe, der Zivilisation stetig neuen Glanz zu verleihen. Der größte oder einzige Wunsch meines Arbeitgebers ist es, einen Tempel zu errichten, auf den die Erben des Fortschritts in tausend Jahren mit den Worten zeigen werden: «Seht, dort ist Vyvyan Ayrs!»
    Wie vulgär, diese Sehnsucht nach Unsterblichkeit, wie eitel, wie falsch. Komponisten betreiben nichts weiter als Höhlenmalerei. Wir schreiben Musik, weil der Winter endlos ist und weil die Wölfe und Schneestürme uns sonst um so eher an die Kehle sprängen.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Zedelghem
    14-IX-1931
     
    Sixsmith,
    Sir Edward Elgar kam heute nachmittag zum Tee. Sogar Du hast schon von ihm gehört, Du Ignorant. Wenn man Ayrs fragt, was er von englischer Musik halte, antwortet er meist: «Welche englische Musik? Es gibt keine! Seit Purcell nicht mehr!» und ist den ganzen Tag lang beleidigt, als hätte man persönlich die Reformation eingeleitet. Seine Feindseligkeit war im Nu verflogen, als Sir Edward heute früh aus seinem Hotel in Brügge anrief und sich

Weitere Kostenlose Bücher