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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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nicht, Frobisher! Sonst vergesse ich sie wieder!»
    «Wollen wir nicht lieber ins Musikzimmer gehen?»
    «Dann wecken wir das ganze Haus auf, und nein, jeder Ton ist da, wo er hingehört, in meinem Kopf!»
    Also bat ich ihn zu warten, bis ich eine Kerze angezündet hatte. Schloß die Tür auf, und vor mir stand Ayrs, einen Stock in jeder Hand, mumifiziert in seinem mondbeschienenen Nachthemd. Hinter ihm wartete Hendrick, stumm und wachsam wie ein indianisches Totem. «Platz da, Platz da!» Ayrs stieß mich zur Seite. «Schnell, suchen Sie sich einen Bleistift, nehmen Sie sich frisches Partiturpapier und knipsen Sie die Lampe an. Warum zum Teufel schließen Sie die Tür ab, wenn Sie bei offenem Fenster schlafen? Die Preußen sind fort, und Gespenster schweben einfach durch die Tür.» Murmelte irgendwelchen Kokolores, könne in einem unverschlossenen Zimmer nicht einschlafen, aber er hörte gar nicht zu. «Haben Sie Papier da, oder soll Hendrick welches holen?»
    Die Erleichterung darüber, daß   V. A. mich offensichtlich nicht dabei ertappen wollte, wie ich seine Gattin besprang, ließ mir sein Ansinnen weniger absurd erscheinen, als es tatsächlich war, und so sagte ich, ja, ich hätte Papier, ich hätte Bleistifte, wir könnten anfangen. Ayrs’ Sehkraft war zu schwach, um in den Gebirgsausläufern meines durchhängenden Bettes etwas Verdächtiges zu erkennen, aber Hendrick stellte nach wie vor eine Gefahr dar. Man soll sich davor hüten, auf die Diskretion von Dienstboten zu vertrauen. Nachdem Hendrick seinem Herrn auf einen Stuhl geholfen und ihm eine Decke um die Schultern gelegt hatte, sagte ich, ich würde nach ihm läuten, sobald wir fertig seien. Ayrs widersprach mir nicht – er summte bereits vor sich hin. Ein verschwörerisches Flackern in H.s Augen? Zu dunkel, um mir sicher zu sein. Der Diener machte eine kaum merkliche Verbeugung, glitt davon wie ein gut geölter Servierwagen und schloß leise die Tür hinter sich.
    Benetzte mir am Waschtisch das Gesicht mit Wasser und setzte mich Ayrs gegenüber, voller Sorge, J. könnte die knarrenden Holzdielen vergessen und sich auf Zehenspitzen davonschleichen wollen. «Fertig.»
    Ayrs summte Takt für Takt seine Sonate, dann benannte er die Töne. Trotz der Umstände zog mich die sonderbare Miniatur schnell in ihren Bann. Ein sich auf und ab bewegendes, zyklisches, kristallenes Gebilde. Er endete nach 96 Takten und bat mich, das Stück mit triste zu überschreiben. Dann fragte er: «Und, was meinen Sie?»
    «Schwer zu sagen», antwortete ich. «Es klingt überhaupt nicht nach Ihnen. Oder sonst jemandem. Aber es hat etwas Hypnotisches.»
    Ayrs war in sich zusammengesunken, als wäre er ein präraffaelitisches Ölgemälde mit dem Titel Siehe, die gesättigte Muse wirft ihre Marionette fort . Vogelgezwitscher im Garten kündigte den neuen Morgen an. Dachte an J.s Kurven nur wenige Meter entfernt in meinem Bett, verspürte sogar ein gefährliches, pochendes Verlangen. V. A. war sich zur Abwechslung seiner selbst nicht sicher. «Ich habe von einem … schauerlichen Restaurant geträumt, hell erleuchtet, aber unterirdisch, ohne Ausgang. Ich war seit langer, langer Zeit tot. Die Kellnerinnen hatten alle das gleiche Gesicht. Zu essen gab es Seife, das einzige Getränk war Schaum aus Bechern. Die Musik in diesem Restaurant war», er zeigte mit müdem Finger auf die Partitur, «diese.»
    Läutete nach H. Wollte Ayrs aus meinem Zimmer haben, bevor das Tageslicht seine Frau in meinem Bett aufspürte. Kurz darauf klopfte es. Ayrs erhob sich und humpelte zur Tür – er kann es nicht ausstehen, sich im Beisein anderer helfen zu lassen. «Gute Arbeit, Frobisher.» Seine Stimme drang aus den Tiefen des Flures zu mir. Ich schloß die Tür und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Stieg wieder ins Bett, wo mein schlammbedeckter Alligator seine kleinen Zähne in sein junges Opfer grub.
    Wir gaben uns gerade einem leidenschaftlichen Abschiedskuß hin, als, verdammt will ich sein, die Tür erneut knarrend aufging. «Eins noch, Frobisher!» Mutter aller Flüche, ich hatte vergessen abzuschließen! Ayrs trieb auf das Bett zu wie das Wrack der Hesperus . J. glitt zurück in ihr Versteck, während ich zur Ablenkung mit den Laken raschelte. Gott sei Dank wartete Hendrick draußen – Zufall oder Anstand? V. A. ertastete das Fußende des Bettes und setzte sich, nur wenige Zentimeter neben den Höcker, der J. war. Hätte sie jetzt geniest oder gehustet, wäre sogar dem

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