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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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keinerlei verdächtige Begleitumstände aufweise.
     
    «Na», sagt Jakes grinsend, «ist dein Enthüllungsartikel des Jahrhunderts damit im Arsch?»
    Luisas Haut kribbelt und ihre Trommelfelle schmerzen.
    «Oops.» Jakes steckt sich eine Zigarette an. «Kanntest du ihn näher?»
    «Er kann das …», Luisa sucht nach den passenden Worten, «… er hätte das niemals getan.»
    Jakes bekommt fast etwas Behutsames. «Sieht aber irgendwie so aus, als hätte er doch, Luisa.»
    «Man bringt sich nicht um, wenn man ein Ziel hat.»
    «Es sei denn, dieses Ziel treibt einen in den Wahnsinn.»
    «Er wurde ermordet, Jakes.»
    Jakes verkneift sich seine «Jetzt kommt das schon wieder»-Miene. «Von wem?»
    «Von Seaboard. Wem sonst.»
    «Aha. Seinem Arbeitgeber. Wem sonst. Das Motiv?»
    Luisa zwingt sich, ruhig weiterzusprechen und Jakes’ gespielte Überzeugung zu ignorieren. «Er hatte ein Gutachten über einen neuen Reaktor verfasst, der in Swannekke B entwickelt wurde, den HYDRA. Der Bau von Standort C wartet nur noch auf die Genehmigung durch das Energieministerium. Sobald sie erteilt ist, kann Seaboard die Baupläne für den heimischen und ausländischen Markt lizenzieren – allein die Verträge mit der Regierung würden regelmäßige Einnahmen von fast zwanzig Millionen pro Jahr garantieren. Sixsmiths Rolle dabei war, dem Projekt seinen Gütestempel aufzudrücken, aber er hielt sich nicht ans Drehbuch und entdeckte höchst gefährliche Konstruktionsmängel. Seaboard ließ den Bericht verschwinden und leugnete seine Existenz. Noch kann ich’s nicht beweisen, aber bald.»
    «Und dein Dr.   Sixsmith hat was getan?»
    «Er wollte an die Öffentlichkeit treten.» Luisa schlägt auf die Zeitung. «Und das hat die Wahrheit ihn gekostet.»
    Jakes sticht mit einem Toaststück eine wabbelige Eigelbkuppel auf. «Du, äh, du weißt, was Grelsch dazu sagen wird?»
    «Handfeste Beweise», sagt Luisa wie ein Arzt, der eine Krankheit diagnostiziert. Sie blickt auf die Armbanduhr. «Hör mal, Jakes, könntest du Grelsch sagen … sag ihm einfach, ich musste noch wohin.»
     
    20
     
    Der Manager des Bon Voyage hat einen schlechten Tag. «Nein, Sie dürfen sein Zimmer nicht sehen! Die Teppichreinigungsfirma hat alle Spuren des Vorfalls beseitigt. Eine Spezialreinigung, die wir, wie ich betonen möchte, aus eigener Tasche bezahlen durften! Was haben Sie nur für schaurige Gelüste? Sind Sie Reporterin? Geisterjägerin? Romanautorin?»
    «Ich bin …», Luisa Rey bricht aus dem Stand in einen Weinkrampf aus, «seine Nichte, Megan Sixsmith.»
    Eine steinerne Matriarchin drückt die weinende Luisa an ihren mächtigen Busen. Ein paar Umstehende werfen dem Manager vorwurfsvolle Blicke zu. Die Farbe weicht aus seinem Gesicht, und er verlässt seinen Posten, um zu retten, was noch zu retten ist. «Kommen Sie bitte mit nach hinten, ich hole Ihnen ein …»
    «Ein Glas Wasser!», schnauzt die Matriarchin, während sie die Hand des Mannes wegschlägt.
    «Wendy! Wasser! Nein, sofort! Bitte hier entlang, möchten Sie sich vielleicht …»
    «Einen Stuhl, Herrgott nochmal!» Die Matriarchin bringt Luisa in das halbdunkle Büro.
    «Wendy! Einen Stuhl! Sofort!»
    Luisas Verbündete umklammert fest ihre Hände. «Lassen Sie es raus, Schätzchen, lassen Sie alles raus, Jesus hört Ihnen zu, ich höre Ihnen zu. Ich bin Janice aus Esphigmenou, Utah, und das ist meine Geschichte. Es geschah, als ich in Ihrem Alter war. Ich war allein zu Hause und kam aus dem Kinderzimmer meiner Tochter, als ich auf halber Treppe meiner Mutter begegnete. ‹Sieh nach der Kleinen, Janice›, sagte sie. ‹Aber ich habe gerade erst nach ihr gesehen›, erwiderte ich. ‹Sie schläft friedlich.› Die Stimme meiner Mutter wurde eiskalt. ‹Widersprich mir nicht, junge Dame, sieh nach der Kleinen, sofort!› Es hört sich verrückt an, doch erst da fiel mir ein, dass meine Mutter letztes Thanksgiving gestorben war. Ich rannte nach oben und sah, dass meine Tochter sich die Schnur der Jalousie um den Hals gewickelt hatte und zu ersticken drohte. Dreißig Sekunden später, und es wäre zu spät gewesen. Verstehen Sie?»
    Luisa blinzelt ein paar Tränen herbei.
    «Verstehen Sie, Schätzchen? Sie gehen von uns, aber sie sind nicht fort.»
    Der geläuterte Manager kommt mit einem Schuhkarton zurück. «Das Zimmer Ihres Onkels ist leider wieder belegt, aber das Zimmermädchen fand in der Gideonbibel diese Briefe. Sein Name steht auf dem Umschlag. Ich hätte sie

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